Wie erleben wir die Begegnung mit Menschen, die aus einem anderen Land kommen und eine andere Sprache sprechen? Und wie erleben diejenigen, die ihre Heimat verlassen und in einem neuen Land ankommen, dies selbst? Die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Dr. med. univ. Ayşe Altunbay forscht über die Zusammenhänge zwischen Migration und psychischer Gesundheit.

Wir sprachen mit Dr. med. univ. Ayşe Altunbay über kulturelle Codes, den Einfluss des Unbewussten und gelungene Begegnung. Die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie baute 2015 im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik die Transkulturelle Ambulanz mit auf. Altunbay wuchs in der Türkei auf, studierte in Österreich und Deutschland Medizin und forscht seit Jahren zum Thema Migration und psychische Gesundheit. 2019 kehrte sie in die Türkei zurück. Aktuell ist sie Projektleiterin am Scientific and Technological Research Council of Turkey (TÜBİTAK) und realisiert ihr Projekt an der Universität Lokman Hekim in Ankara. Das Interview wurde geführt, als sie noch in Hamburg arbeitete.

Frau Dr. Altunbay, was passiert in unserer Psyche, wenn wir Fremden begegnen?

Ayşe Altunbay: Eine solche Begegnung führt häufig zur Verunsicherung, denn es gelten unterschiedliche Codierungen. Was ist höflich, was unhöflich? Was kann man sagen, ohne die Regeln zu verletzen, was geht nicht? Selbst wenn ich mit der Herkunftskultur eines Menschen vertraut bin, gibt es eine Verunsicherung auch bei mir. In die Transkulturelle Ambulanz kamen zum Beispiel an einem Tag eine türkische Familie, eine deutsche, eine persische. Obwohl ich mit diesen Kulturen biografisch vertraut bin, musste ich im Laufe eines Tages meine Rolle als Ärztin immer wieder neu finden. Ich konnte an mir selbst beobachten, wie herausfordernd das ist. Bei mir ist es eine bewusste Wahl, mein frei gewähltes Arbeitsgebiet. Bei anderen Menschen kann die in der Begegnung liegende Anstrengung dazu führen, dass man diesen Begegnungen ausweicht.

Wie geht es Menschen, die ihre Heimat verlassen haben, wie verarbeitet ihre Seele das?

Ayşe Altunbay: Die Sprache mühsam zu erlernen, die kulturellen Codierungen kennenlernen zu müssen, das führt dazu, dass wir uns plötzlich unsicher und abhängig von der Hilfe anderer fühlen. Es macht unsicher, wenn man merkt: Verhaltensweisen bedeuten etwas anderes. Man ist sprachlos, nicht nur wegen der Sprache, sondern auch vom Verhalten her. Wenn man nach den gelernten Verhaltensregeln handelt, ist das in der neuen Umgebung möglicherweise negativ codiert. Die Seele verarbeitet das in mehreren Phasen. Dabei ist wichtig, wie wir diese Situation erleben. Gibt es Menschen, die Sicherheit und Geborgenheit geben? Sind wir allein, fühlen uns vielleicht sogar angefeindet? Die Verunsicherung kann so stark sein, dass sie krank macht. Das Risiko, psychisch krank zu werden, ist in einer Migrationssituation deutlich erhöht.

In Hamburg gibt es viele Menschen mit Migrationsgeschichte, gehört Begegnung da nicht zum Alltag?

Ayşe Altunbay: Kontakt heißt nicht automatisch Begegnung. Wir alle haben heute in der Nachbarschaft, im Supermarkt, im Krankenhaus Kontakt mit Fremden oder anderen Kulturen und Religionen. Aber die Menschen gehen aneinander vorbei. Solange kein Austausch stattfindet, ist es auch keine wirkliche Begegnung, denn beide Seiten verändern sich nicht. Leider ist oft eine gesellschaftliche Abwehr da. Dadurch ist die Annäherung blockiert.

Woher kommt diese Abwehr?

Ayşe Altunbay: Dass man mit Menschen anderer Kulturen und Glaubensrichtungen nichts zu tun haben will, dass man sie schlechtmacht, feindselige Gefühle hegt: Diese regressive Tendenz speist sich auch aus dem Unbewussten. Wir tragen in uns über Generationen hinweg vermittelte Geschichten und Erlebnisse. Sie beeinflussen die Art, wie wir Fremde sehen und ihnen gegenübertreten. Die Forschung spricht von der transgenerationalen Weitergabe – oft über Jahrhunderte.
In Wien zum Beispiel sind unter den muslimischen Bevölkerungsgruppen türkisch-stämmige Menschen am schlechtesten angesehen. Ohne die Belagerung Wiens durch die Türken vor mehr als 300 Jahren kann man diese heutigen Spannungen nicht gut verstehen. Da wächst bereits die fünfte Generation heran, also Menschen, deren Ur-Ur-Großeltern nach Österreich kamen, aber in der öffentlichen Wahrnehmung sind es immer noch ‚die Türken‘.

Was sind die Folgen davon?

Ayşe Altunbay: Wo Begegnung verweigert wird, kann sich bei dem, der eingewandert ist, kein Zugehörigkeitsgefühl einstellen. Mir berichten auch Familien, die in zweiter oder dritter Generation in Hamburg leben, die hier arbeiten, deren Kinder erfolgreich die Schule besuchen, dass sie sich trotzdem nicht angenommen fühlen. Das erleben sie als starke Kränkung.

Was braucht es für die Annäherung?

Ayşe Altunbay: Die Absicht, sich wirklich einzulassen. Dazu kann man niemanden verpflichten, das muss jeder Mensch selbst wollen. Obwohl es eigentlich ganz logisch und normal ist, denn wir sitzen doch alle im gleichen Boot und brauchen einander. Wenn man echte Neugier hat, beginnt man, sich gegenseitig anzunähern. Das kann zunächst Angst auslösen, denn man weiß noch nicht, wem man begegnet. Wenn man die Verunsicherung bewältigt, kommt eine wirkliche Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Anderen zustande. Die kann von Aggression, Wut, Enttäuschung und Schmerz begleitet sein. Denn man wird möglicherweise verletzt durch etwas, das anders ist. Wenn man auch das bewältigt, können Trauer und Erschöpfung aufkommen, denn es kostet Energie, diese negativen Gefühle zu ertragen. Und erst dann kommt die Freude über die gelungene Begegnung auf, die eine Bereicherung für beide ist.

Warum ist es so schwer, in Konflikten die Augenhöhe zu halten, wenn Diversität im Spiel ist?

Ayşe Altunbay: Ich finde zwei Erklärungsansätze wichtig. Der erste kommt aus der soziologischen Migrationsforschung und ist in Ländern wie Deutschland von hoher Relevanz, wo die Arbeitsmigration sehr zur gesellschaftlichen Diversität beigetragen hat. Arbeitskräfte wandern ein, dadurch steigen Einheimische sozial und ökonomisch auf. Denn die untersten Schichten der Gesellschaft sind nun zunächst von den Eingewanderten besetzt. Wenn diese oder ihre Kinder mit der Zeit aber mehr Teilhabe verlangen und selbst aufsteigen wollen, erzeugt dies eine latente Angst bei den Einheimischen mit niedriger beruflicher Qualifikation, das könne auf ihre Kosten gehen. Dieser Konkurrenzdruck führt zum Bedürfnis, sich gegenüber den „Anderen“ abzugrenzen. Dazu werden die kulturellen Unterschiede und Diversitätsmerkmale herangezogen, sie werden also instrumentalisiert, um die soziale Schichtung aufrechtzuerhalten.
Den zweiten Erklärungsansatz finde ich als Psychotherapeutin spannender, da er aus der psychologischen Migrationsforschung hervorgeht. Gerade bei Themen wie Identität, Weltanschauung oder Religion werden Konflikte von starken Gefühlen begleitet, die zu gegenseitiger Kränkung führen können, was eine Begegnung auf Augenhöhe erschwert – wenn nicht unmöglich macht. Wenn es einen Konflikt gibt, weil etwas mit unseren Werten kollidiert, kommt schnell ein Überlegenheitsgefühl auf. Nehmen wir Religion und Religiosität: Viele Menschen in Europa sind sehr säkular eingestellt und sehen das als höchste Stufe der Evolution. Ich erlebe, dass sie es oft kaum aushalten, mit religiösen, von ihnen als rückschrittlich bewerteten Menschen zu tun zu haben. Das ist fatal. Denn sobald das Gegenüber das wahrnimmt, ist keine Augenhöhe mehr möglich, die Begegnung ist blockiert.

Welche Gefühle löst das bei Ihnen aus?

Ayşe Altunbay: Als Muslimin mit Kopftuch macht es mich wütend, wenn ich spüre, dass ich aufgrund meines Kopftuchs als unterdrückt oder rückständig bewertet werde. Wenn jemand religiös ist, bedeutet das doch nicht, dass er oder sie weniger klug ist. Seien wir ehrlich: Jede und jeder sucht doch nach einem Sinn im eigenen Leben und weiß, dass es Fragen gibt, auf die wir Menschen keine Antwort haben.
Ich muss aber auch erkennen, dass mein Kopftuch bei einem säkular eingestellten Gegenüber starke Emotionen auslösen kann. Mir persönlich hat es geholfen, zu erkennen, dass das Kopftuch zur Geschichte Europas gehört und die Entschleierung ein starkes Symbol für die Emanzipation der Frau ist. Diese Erkenntnis half mir, nicht mehr in die verführerische Opferrolle zu rutschen, wenn ich mich durch sarkastische Anmerkungen über Kopftuch und Unterdrückung angegriffen fühlte.

Dr med Ayse Altunbay I Lebenswelten im Dialog

Dr. Ayşe Altunbay Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, bis 2019 in der Transkulturellen Ambulanz des UKE in Hamburg tätig. Derzeit leitet sie ein sozialpsychiatrisches Dreiländerprojekt über die tieferen Wurzeln der gesellschaftlichen Konflikte um die Sichtbarkeit des Islams in der deutschen, österreichischen und türkischen Öffentlichkeit. Foto: Privat

Was hilft im Konflikt?

Ayşe Altunbay: Vor allem eines: Ambivalenztoleranz! Das heißt, man muss Ambivalenzen aushalten und mit ihnen umgehen können. Diese Toleranz bringen auch unsere Klientinnen und Klienten nicht unbedingt mit. Da gibt es zum Beispiel für manche Eltern nur schwarz oder weiß: ‚Das und das darf meine Tochter nicht. Davon weiche ich keinen Millimeter ab.‘ Die Begegnung mit solchen Eltern kann sehr frustrierend sein.
Noch mehr gilt das, wenn es um Gewalt in einer Familie geht. Die Eltern, die mit ihren Kindern in unsere Praxis kommen, haben oft selbst als Kinder Gewalt erlebt. Kinder zu schlagen gilt in manchen Kulturen als normal, das heißt nicht, dass man sie nicht liebt. Wie reden wir mit diesen Eltern über ihre Einstellungen? Führe ich mit ihnen eine philosophische Diskussion? Weise ich sie streng darauf hin, dass das verboten ist und drohe mit dem Jugendamt?
Solche Situationen sind äußerst heikel. Die Eltern haben möglicherweise große Vorbehalte gegenüber dem Jugendamt und deutschen Institutionen. Nach meiner Erfahrung ist es absolut notwendig, mit ihnen in einen vertrauensvollen Dialog zu gelangen. Ihre Kinder leiden am meisten, denn sie leben in zwei Welten. Es ist keine Lösung, die Familien wegzuziehen von ihrer Herkunftskultur. Sie müssen einen Weg finden, ihre Herkunftskultur in die hiesige zu integrieren, sonst erleben unsere Patientinnen und Patienten das wie eine Amputation. Es ist äußerst wichtig, ihnen sensibel und auf Augenhöhe zu begegnen. Jedoch darf dies nicht dazu führen, im Rahmen der Kultursensibilität die Gewalt gutzuheißen. Dafür hat es sich als sehr hilfreich erwiesen, dass Menschen mit dem gleichen Migrationshintergrund in den Institutionen arbeiten.

Wie fördert man den Dialog?

Ayşe Altunbay: Wir müssen neugierig machen auf die schönen Seiten von Vielfalt. Verlassen wir das Schwarz-Weiß-Denken und ermutigen dazu, offener zu werden, zuzuhören, nachzufragen! Was ich wirklich gut finde in Deutschland, ist die Bereitschaft, sich mit sich selbst und der eigenen Kultur auseinanderzusetzen, auch mit belastenden Wahrheiten. Es gibt die Bereitschaft, Verantwortung für andere zu übernehmen. Das sind Eigenschaften, die helfen können.

Foto: C. Barkmann