Wer in der Pflege arbeitet, begegnet Menschen in existenziellen Situationen. Sie sind auf Hilfe angewiesen, wissen vielleicht, dass ihr Leben nicht mehr lange währt, fragen nach Halt und Hoffnung. Pflegekräfte sollten mit einer eigenen klaren Haltung darauf eingehen können. Im besten Fall lernen sie das schon in der Ausbildung – und tun damit auch etwas für die eigene Burnout-Prophylaxe.
Sinnfragen, Glaube und Kultur sind aber noch aus einem anderen Grund wichtige Themen in der Pflege. Denn auch in diesem Beruf nimmt die Diversität zu: bei den zu Pflegenden, aber vor allem bei den Fachkräften, Teams sind zunehmend bunt gemischt. Einrichtungen profitieren deshalb, wenn sie bei Glaubens- und Kultursensibilität professionell aufgestellt sind.
Exemplarisch lassen sich diese Aspekte in der Pflege-Ausbildung beobachten. Hier erwerben die Fachkräfte von morgen ihre Kompetenz. Und hier, beim Nachwuchs, ist eine große Vielfalt von Herkunft, Glaube und kultureller Prägung längst der Normalfall.
Wir haben darüber mit dem Leiter der Evangelischen Berufsschule für Pflege, Carsten Mai, gesprochen. Die Schule in der Weidestraße im Hamburger Stadtteil Barmbek-Süd wurde 1961 gegründet und gehört zum Rauhen Haus. Rund 250 Schülerinnen und Schüler lernen dort Gesundheits- und Pflegeassistenz und – bisher – Altenpflege. Ab Sommer 2020 wird auf den Abschluss Pflegefachmann/-fachfrau umgestellt. Die Praxis-Blöcke absolvieren die Auszubildenden bei den Kooperationspartnern der Schule, mehr als 70 Ausbildungsbetrieben in der Langzeit- und Akutpflege.
Welche Grenzerfahrungen machen Mitarbeitende in der Pflege?
Carsten Mai: Pflegekräfte sind mit Menschen zusammen, die chronisch krank sind, die hohen Unterstützungsbedarf haben oder deren Lebenszeit begrenzt ist. So sind sie auch mit deren existenziellen Fragen konfrontiert: Wo komme ich her, wo gehe ich hin, warum lebe ich noch? Da spielt Glaube, welcher auch immer, natürlich eine große Rolle.
Warum brauchen Pflegekräfte eine eigene Haltung in diesen Fragen?
Carsten Mai: Damit sie den Kontakt angemessen gestalten und sich auch abgrenzen können. Ein Beispiel ist der Umgang mit Demenzkranken. Was sie hier erleben, müssen Pflegekräfte einordnen können und für sich wissen: Was macht ein Leben eigentlich lebenswert? Das können tiefgehende, auch religiöse Überlegungen sein.
Wie fördern Sie das in der Ausbildung?
Carsten Mai: Wir unterteilen den Stoff nicht streng in Fächer, sondern vermitteln viel mithilfe von Lernsituationen. Im Lauf der Ausbildung werden diese Situationen immer komplexer, wir beleuchten sie aus allen wissenschaftlichen Perspektiven. Immer reflektieren die Auszubildenden dabei ihre eigene Haltung. Diese biografische Orientierung ist ganz wichtig, sie beginnt schon in der ersten Woche der Ausbildung mit einem Blick auf den eigenen Lebensweg.
Die Auszubildenden von heute sind die Fachkräfte von morgen. Hat die Diversität zugenommen?
Carsten Mai: Ja. An unserer Schule sind inzwischen Auszubildende aus mehr als 40 Herkunftsländern. In den Assistenzberufen finden sich zunehmend Menschen mit Fluchterfahrung, die zum Teil traumatisiert sind. Und auch wenn es ein Klischee bestätigt: Unter den Geflüchteten sind viele junge Männer, die ein Rollenverständnis mitbringen, das hier zu Schwierigkeiten führt.
Können Sie Beispiele nennen?
Carsten Mai: Vor der Kleingruppenarbeit im Unterricht sagt ein junger Mann: Ich diskutiere nicht mit Frauen. Oder ein Auszubildender im Betrieb will von seiner Anleiterin keine Anweisungen entgegennehmen, weil sie eine Frau ist. Begründet wird das religiös.
Wie reagieren Sie?
Carsten Mai: Generell thematisieren wir im Unterricht, wie Menschen in unterschiedlichen Kulturen miteinander umgehen, und arbeiten das Menschenbild heraus, das dahintersteht. Den konkreten Fall versuchen wir zu verstehen und gehen ins Gespräch, auch wenn das nicht immer einfach ist. In einzelnen Fällen haben wir Auszubildenden ein interkulturelles Training empfohlen.
Erleichtert es Ihre Arbeit, wenn Sie Glauben und Kultur einbeziehen?
Carsten Mai: Auf jeden Fall. Vieles ist einfach interessant und bereichernd. Zum Beispiel ist arabischen Männern die Pflege viel näher. Bei uns sind pflegende Angehörige in der Regel
Frauen. Im arabischen Raum übernimmt das selbstverständlich der erstgeborene Sohn, sogar wenn es eine erstgeborene Tochter gibt.
Oder ein Beispiel aus unserer Unterrichtsgestaltung: Wir haben etliche Auszubildende aus dem asiatischen Raum, die wir gerade in der ersten Zeit gezielt zur Beteiligung auffordern. Denn sie haben Lernen und Schule ganz anders erlebt: Sie sollten fleißig sein, aber längst nicht so aktiv, wie wir es hier praktizieren, mit Gruppenarbeiten, Präsentationen, Selbsterfahrungsübungen. Weil wir um diese Unterschiede wissen, können wir sie berücksichtigen.
Was ist Ihr nächstes Vorhaben, um Glaubens- und Kultursensibilität auszubauen?
Carsten Mai: Wir haben vor einigen Jahren den verpflichtenden Religionsunterricht an unserer Schule neu konzipiert. Denn wir brauchen hier keine religiöse Unterweisung, sondern eine Auseinandersetzung mit Existenz- und Glaubensfragen. Wenn jetzt das Curriculum für die neue Pflege-Ausbildung kommt, werden wir auch den Religionsunterricht weiter entwickeln. Es soll noch mehr um Glaube gehen – mit einem sehr offenen Glaubensbegriff, der nicht auf Religion beschränkt ist.
Foto: Karin Desmarowitz