Drei Fragen an Prof. em. Dr. Ronald Lutz. Er veröffentlichte u. a. „Soziale Erschöpfung“ (2014) und „Sozialarbeit und Religion“ (2016). Bis 2019 lehrte Prof. Lutz Soziologie an der Fachhochschule Erfurt. Er ist weiterhin tätig als Lehrbeauftragter der Fachhochschulen Erfurt und Würzburg-Schweinfurt.
Sie haben gemeinsam mit Kolleg:innen den Band „Corona, Gesellschaft und Soziale Arbeit“ herausgebracht, dessen Ausgangsthese ist, dass sich Soziale Arbeit durch die Erfahrung der Pandemie deutlich verändern muss. Was muss sich aus Ihrer Sicht verändern?
„Die Soziale Arbeit muss sich neu erfinden. Sie ist mit etwas konfrontiert, wofür sie noch keine Antworten und Rezepte hat. In der Pandemie sehen wir sich dramatisch verstärkende soziale Ungleichheit. Wir erleben, dass Kinder und Jugendliche als Subjekte komplett übergangen werden und Familien, die schon erschöpft waren, noch stärker überfordert werden. Wir müssen Kinder und Jugendliche endlich als Subjekte begreifen, behandeln und einbeziehen. Die Soziale Arbeit versagt aktuell. Sie sollte auch das Gemeinwesen fördern, nicht nur einzelne Klient:innen. Es geht nicht darum, wiederzueröffnen und dann weiterzumachen wie bisher, denn die Krisen werden nicht mehr aufhören. Wir müssen schauen, welche Bedürfnisse und Fragen die Menschen haben, wo sie Soziale Arbeit brauchen. In den letzten Jahren hat sich Soziale Arbeit sehr stark auf die individuelle Ebene fokussiert. Die Pandemie lehrt uns, wieder stärker gesellschaftlich und auch politisch zu denken.“
Das Buch, das Sie zuvor veröffentlicht haben, beschäftigte sich mit Sozialer Arbeit und Religion. Was denken Sie, wie sich die Bedeutung von Glauben und Religiosität in unserer Gesellschaft durch die Corona-Zeiten verändert?
„Wir haben schon zuvor beobachtet, dass die Bedeutung von Religionen zunimmt in Deutschland, spätestens seit 2015. Dass wir keineswegs, wie noch vor Jahren allgemein angenommen, auf säkulare Zeiten zusteuern. Wir spüren schon länger, dass wir Resonanz brauchen, Sinnangebote. Die dominierende Konsum- und Profitorientierung läuft ins Leere. Die Pandemie stellt jetzt ganz viel in Frage. Die Zukunft der jungen Generation steht auf dem Spiel. Sogar junge Menschen, die in einem stabilen Umfeld aufwachsen, empfinden eine tiefe Verunsicherung und machen sich Sorgen um ihre Zukunft. Auch dadurch wird Religion in der Pandemie eine andere Rolle bekommen. Glauben kann Halt geben. Die Kirchen verlieren aber weiter an Bedeutung, wir erleben sie aktuell als eher schwache Akteure. Ich denke, radikale Religionsbewegungen werden noch deutlich mehr Zulauf finden, und wir müssen sehr aufpassen bei den Sekten. Also: Soziale Arbeit kommt an Religion nicht mehr vorbei! Aber wir müssen auch ehrlich sein, wir sind spät dran! Um es mit Ahmed Mansour zu sagen: Die Salafisten sind weit vorn, die holen wir nicht mehr ein.“
Es gibt so viele Veränderungen durch die Pandemie. Dazu wird befragt und geforscht. Vor Ort in der Praxis haben die Fachkräfte ganz viele Erfahrungen gesammelt, was alles nicht ging und mit welchen neuen Ideen sie weiterarbeiten konnten. Davon haben wir in unserem Trialog erfahren. Was denken Sie, wie können wir gemeinsam dafür sorgen, dass das, was wir gerade lernen, nicht wieder vergessen wird? Und dass auch Rahmenbedingungen, die sich gerade als zu starr oder zu schwerfällig gezeigt haben, krisenfester werden? Oder müssen wir die Pandemie als Teil einer viel größeren Krise verstehen?
„Die Pandemie ist nur eine von vielen Krisen, die wir aktuell erleben oder besser Teil einer viel größeren Krise. Wir Menschen verändern durch die Nutzung fossiler Energien die Atmosphäre, die das Leben auf der Erde überhaupt erst ermöglicht. Die Folge: das Klima wandelt sich! Wir erleben mit der Flutkatastrophe bei uns, was für uns bisher immer nur im Fernsehen stattfand. Wir müssen den Tatsachen ins Auge blicken: Wir sind es, mit unserer westlichen Lebensweise, die die Welt in diese Krise gebracht haben und wir können auch selbst Opfer werden. Hoffentlich rüttelt uns das endlich wach. Wir sollten, um es mit Ulrich Beck zu sagen, den Blick aus unserem ‚nationalen Container‘ dringend hinaus auf den globalen Kontext richten. Und auch kritisch auf uns selbst: Wir müssen unsere Lebensweise verändern. Und das gilt auch für die Soziale Arbeit: Wir benötigen eine globale Perspektive, müssen uns vernetzen, damit wir größere Zusammenhänge verstehen und uns als Teil davon begreifen. Das bedeutet auch, uns zu verabschieden von der Ausrichtung der Sozialen Arbeit am Individuum. Wir müssen diese Überhöhung des Individuums aufgeben, denn das ist Teil des Problems. Wir Individuen können nur als Teil von Gesellschaft überleben. Deshalb brauchen wir eine Rückbesinnung auf das Gemeinwesen als Handlungsraum. Nur gemeinsam können wir in der Krise sinnvoll handeln.“
Interview: Anke Pieper
Lektüretipp: Ronald Lutz, Jan Steinhaußen, Johannes Kniffki (Hrsg.), Corona, Gesellschaft und Soziale Arbeit, Neue Perspektiven und Pfade, Weinheim, Basel 2021.