Teilhabe wird hier verstanden als ein Synonym für Partizipation, Mitsprache, Mitgestaltung und aktive Teilnahme am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Aus den Erfahrungen verschiedener Arbeitsbereiche wurde zusammengetragen, was als förderlich und hinderlich erlebt wird. Eine weitere Leitfrage war, inwiefern Diversität in Teilhabeprozessen Bedeutung hat und praktisch berücksichtigt wird. Im interdisziplinären Austausch wurde deutlich: Die Fachkräfte, die sich in unterschiedlichen Arbeitsfeldern gegen Ausgrenzung und für Teilhabe einsetzen, teilen eine ganze Reihe von Praxiserfahrungen und Erkenntnissen miteinander.

I Strukturen kritisch prüfen

Rein formal steht es gut um die Teilhabe: Internationale Abkommen, nationale Gesetze und kommunale Agenden wollen sie voranbringen. In der Praxis liegen Anspruch und Wirklichkeit oft noch auseinander: Die Strukturen sind keineswegs so offen oder gehen weiter von einer imaginären „Mehrheitsgesellschaft“ aus, wodurch viele Menschen ausgegrenzt werden.

Beispiel 1: Die Hartz-IV-Anträge sind kompliziert. Schon Menschen mit Deutsch als Muttersprache haben Probleme damit, für Geflüchtete mit begrenzten Deutschkenntnissen sind sie ohne fremde Hilfe nicht zu bewältigen. So braucht es eine große Zahl von hauptamtlichen Berater:innen und geschulten Ehrenamtlichen, nur um dafür zu sorgen, dass die komplizierten Formulare ausgefüllt werden. Warum werden die Anträge nicht so angepasst, dass sie leichter zu bearbeiten sind?

Beispiel 2: Es wird viel dafür getan, dass Menschen mit Assistenzbedarf Arbeit finden, bis hinein in den ersten Arbeitsmarkt. Doch die Arbeitsverträge versteht ein Teil von ihnen bisher nicht. Mittlerweile gibt es Arbeitsverträge in Einfacher Sprache, allerdings ist noch unklar, ob sie rechtssicher sind.

Beispiel 3: Selbstbestimmung und Partizipation sollen gestärkt werden. So kommen Menschen mit Assistenzbedarf z. B. in Wohnbeiräten zusammen, so auch beim Rauhen Haus. Allerdings fehlt ihnen zunächst oft eine „gemeinsame Sprache“, denn nicht alle können sich mit ihrer Stimme verständigen. Einige verwenden Gebärdensprache, andere benötigen technische Hilfsmittel für die Kommunikation. Hier braucht es Moderationstechniken, um ein solches Gremium tatsächlich arbeitsfähig zu machen.

Beispiel 4: Die Wichern-Schule pflegt die Tradition der Kinderbischöf:innen. Schüler:innen beschäftigen sich im Schuljahr mit den Kinderrechten und wählen jeweils Themen, welche die Kinderbischöfe dann öffentlichkeitswirksam vorbringen, etwa beim Ersten Bürgermeister oder bei der Bischöfin. Für diese Auftritte werden sie in besondere Gewänder, eine Art bischöfliches Ornat, gekleidet und in einem Gottesdienst in einer Hauptkirche in ihr Amt eingeführt. Die Tradition der Kinderbischöf:innen lässt sich in Hamburg bis ins Mittelalter zurückverfolgen. In der Schule möchten auch Kinder mit muslimischem oder buddhistischem Hintergrund das Amt gern übernehmen, und es wird überlegt, wie sich die Tradition so öffnen lässt, dass sich dies für alle stimmig anfühlt. Braucht es neue Gewänder für diese Kinder? Andere Gewänder für alle? Oder ganz andere Veränderungen?

Fazit: Manche Strukturen grenzen aus und müssen dringend geändert werden. Auch weil sie enorme personelle Ressourcen binden, die viel sinnvoller für die Teilhabeförderung eingesetzt werden könnten! Bei anderen Strukturen sind noch Anstrengungen nötig, um echte Teilhabe zu ermöglichen. Es bräuchte wirksame Rückkopplungsschleifen, damit sich die Strukturen über solche Erkenntnisse aus der Praxis verändern lassen.

II Heraushelfen aus Resignation

Mehrere Redebeiträge beschrieben, wie Menschen an Strukturen scheitern: Der Antrag wird abgelehnt, in der Schule gibt es trotz vieler Bemühungen schlechte Noten, im Sprechzimmer beim Arzt oder bei der Ärztin gelingt es nicht, die eigenen Fragen zu Diagnose oder Therapie zu stellen. Leicht entsteht daraus bei den Betroffenen ein Gefühl, versagt zu haben, und sie resignieren. Sie erleben dieses Scheitern oft ausschließlich als ihr persönliches Defizit.

Wer Teilhabe fördern will, muss hier ansetzen und mit den Klient:innen oder Schüler:innen daran arbeiten, zu erkennen, dass keinesfalls sie allein verantwortlich sind dafür, dass sie ihre Interessen nicht durchsetzen konnten. An diesem Punkt wird zugleich erneut deutlich, wie stark viele Strukturen immer noch defizitorientiert funktionieren und Teilhabe damit behindern oder sogar verhindern.

III Win-Win-Situationen schaffen

Am leichtesten gelingt Teilhabe dort, wo alle Beteiligten etwas hinzugewinnen. Beispiel 1: Um Menschen mit Behinderung die Teilnahme an Wettkämpfen zu ermöglichen, wurde mit ihnen eine Betriebssportmannschaft gegründet. Bei den ersten Wettkämpfen reagierten die anderen Mannschaften zunächst etwas zurückhaltend auf dieses Team. Sie stellten aber schnell fest: Die Spiele mit dieser Mannschaft liefen auf eine sympathische Art anders ab. Es werde viel mehr gesprochen und auch mehr miteinander gelacht als sonst, berichteten Wettkampfteilnehmer:innen aus den anderen Mannschaften; sie würden sich immer schon auf die Begegnung freuen.

Beispiel 2: Familien aus einer Wohnunterkunft treffen sich mit Senior:innen aus dem Stadtteil. Diese lesen den Kindern etwas vor. Was den Kleinen beim Spracherwerb hilft, ist für die Senior:innen eine angenehme Aktivität. Für alle entstehen neue soziale Kontakte.

In beiden Fällen reicht die Idee allein nicht aus. Damit solche Win-Win-Situationen tatsächlich entstehen und nachhaltig sind, sind professionelle Vorbereitung, Moderation und Begleitung nötig.

IV Die Extraportion Engagement mitbringen

Für den Einsatz für Teilhabe sei oft im Alltag kein Platz, die übrigen Anforderungen ließen dies kaum zu, berichteten zwei Lehrkräfte. Deshalb engagieren sie sich in der Schule teilweise außerhalb ihrer regulären Arbeitszeit und damit ehrenamtlich. Das werde allerdings von außen oft gar nicht realisiert und wertgeschätzt.

Man muss persönlich schon sehr brennen für das Thema Teilhabe, denn als Regelaufgabe, zum Beispiel in der Schule, erhält es bisher noch viel zu wenig Raum. Vielleicht hilft es, auf die Erfolge hinzuweisen, die das Engagement Einzelner hervorbringt, um in den Strukturen mehr Raum und Ressourcen für Teilhabeförderung bereitzustellen.

V Grenzen überschreiten

Für mehr Teilhabe braucht es den Mut, Grenzen zu überschreiten. Ein Teil der Wichern-Schule hat sich von den Zensuren verabschiedet, orientiert sich an der Reformpädagogik, bezieht die Schüler:innen in die Bewertung ihrer Lernfortschritte ein und bemüht sich um Förderung ihrer Ressourcen. Projekte am Wilhelmsburger Helmut-Schmidt-Gymnasium öffnen sich zum Stadtteil hin und wirken wieder an die Schule zurück. Schultheaterprojekte zielen darauf ab, die Themen zu bearbeiten, die den Schüler:innen gerade am meisten am Herzen liegen. Über die Theaterarbeit und andere Gelegenheiten geht die Schule in den Diskurs mit dem Stadtteil, mit Eltern und Familien. Angehörige der Schüler:innen wurden so erreicht, die sich sonst nicht mit den dargebotenen Themen auseinandersetzten. Für die jungen Menschen, die an den Theaterstücken beteiligt sind, ist dieses Eingehen auf ihre Themen eine so positive Erfahrung, dass etliche noch Jahre nach dem Abitur weiter mitwirken und so auch zu Multiplikator:innen im Stadtteil geworden sind.

Bei einer Schülerin, die nach einer Flucht erst seit wenigen Jahren in Hamburg lebte, gelang es durch einen ressourcenorientierten Blick des Deutschlehrers, ihr besonderes Sprachgefühl und Talent hinter den Fehlern zu entdecken. Eine andere Lehrkraft hätte die gleichen Leistungen vielleicht eher als mangelhaft gewertet. Die Schülerin konnte gezielt an ihrer Schriftsprache arbeiten, schaffte das Abitur und veröffentlichte mittlerweile ihren ersten Roman.

Von einer anderen Grenzüberschreitung erzählte eine Beraterin aus dem Billstedter Gesundheitskiosk: Eine Klientin konnte eine Behandlung bei der Krankenversicherung nicht durchsetzen, erhielt einen ablehnenden Bescheid. Die Beraterin gab der Klientin in dem auf Arabisch geführten Gespräch eine für eine fachlich basierte Beratung ungewöhnliche Empfehlung: „Beten Sie!“ Sie sagte dies aus der persönlichen Überzeugung, dass Gebete bei Krankheit und Leiden oft helfen können.

VI Sensibilität nicht an andere delegieren

„Du mit Deinem Migrationshintergrund kannst das doch am besten!“ Von solchen Versuchen, die Beschäftigung mit Diversität an Menschen mit eigener Migrationserfahrung zu delegieren, berichteten mehrere Teilnehmende. Keine Frage: Damit Teilhabe in einer Gesellschaft mit kultureller Diversität vorankommt, braucht es besondere Sensibilität. Und die kann leichter entwickeln, wer selbst in mehreren Kulturen zuhause ist. Natürlich hilft es auch, wenn man mehrere Sprachen spricht. „Die Sprache kommt ja aus dem Herzen. Das heißt, wer in einer Sprache zu Hause ist, ist auch vertraut mit der Kultur aus der sie kommt“, so erlebt es die Gesundheitsberater:in. Beim Sprechen gerade über Krankheit und Leiden sei es enorm hilfreich, wenn Menschen in ihrer Muttersprache darüber kommunizieren können.

Falsch wäre aber, wenn sich alle anderen mit dieser Erkenntnis bequem zurücklehnten. Teilhabe kann nicht gelingen, wenn sich nur die schon diversitätserfahrenen Menschen um Diversitätssensibilität bemühen. Natürlich haben sie einen Vorsprung, aber er darf nicht zum Vorwand für andere werden, sich herauszuhalten.

„Wir alle brauchen Sensibilität für Glauben und Kultur der Menschen, für die wir arbeiten, deren Teilhabe wir fördern wollen. Denn wir leben in einer Gesellschaft, die von Diversität geprägt ist. Sie fordert uns diese Sensibilität ab.“ Dies war Konsens beim Trialog.

Dies bedeutet auch, sich nicht wegzuducken, wenn es heikel wird. So ermunterte ein Lehrer seine Kolleg:innen: „Jede:r kann und muss aktiv werden, wenn in der Schule zum Beispiel antisemitische Parolen zu hören sind. Ein Weg ist dann, all die Sprüche an der Tafel zu sammeln und mit den Schüler:innen darüber zu sprechen. Das braucht Mut, aber das geht auch ganz ohne Migrationshintergrund.“

VII Wenn kein Wille da ist und vielleicht noch nicht mal ein Wunsch

Es gibt Menschen, die sind so verzweifelt, dass sie gar keinen Wunsch mehr äußern. Ein Trialog-Zuhörer, der in der Sozialpsychiatrie arbeitet, berichtete von einem Klienten auf der geschlossenen Station, der ihm sagte, direkt nach seiner Entlassung werde er sich umbringen. Darauf habe er dem Klienten gesagt, er glaube fest daran, dass er eine andere Perspektive als den Suizid entwickeln könne. Er werde ihn geduldig auf diesem Weg begleiten. Dies sei im Nachhinein ein wichtiger Moment für den Weg hinaus aus der Krise gewesen.

Eine andere Zuhörerin berichtete von einer verfahrenen Situation in einer Schulklasse: Die Schüler:innen glaubten selbst nicht mehr, dass sie ihr destruktives Verhalten ändern könnten. Sie habe ihnen gesagt, sie glaube es aber. Und dies habe positiv gewirkt.

In einem Forschungsprojekt am Rauhen Haus wurden Jugendliche gefragt, was Menschen helfen könnte, die gar keine Hoffnung mehr haben. Mehrere antworteten spontan: Ein anderer Mensch, der ihn liebt, könne in diesem Fall helfen.
Teilhabe fördern heißt, in Beziehung zu gehen, genau hinzuhören, sich zu vergewissern, ob man richtig verstanden hat, geduldig zu sein und sich einzufühlen. Es bedeutet nicht, Menschen ins Ziel zu tragen. Teilhabe kann nur erreicht werden, wenn Menschen selbst sie auch erreichen wollen. Nur dann können sie erfolgreich dabei begleitet werden. Dies betonten alle Teilnehmer:innen aus ihren Arbeitsbereichen, sei es Schule, Gesundheitsförderung, Integration von Geflüchteten oder von Menschen mit Assistenzbedarf.

 VIII Den ganzen Menschen sehen

Übereinstimmung gab es noch in einem weiteren Punkt: Teilhabe scheitert, wenn Menschen mit verengtem Blick wahrgenommen werden: als Antragsteller:in; als (nicht) erfolgreiche Schüler:in; als Kranke*r; als Mensch mit körperlichen oder psychischen Einschränkungen.

Um Menschen in ihren Möglichkeiten zu fördern, braucht es den Blick auf den ganzen Menschen und seine Lebenswelt – seine Beziehungen zu anderen, seine kulturellen Prägungen und Werte, seine existenziellen Bedürfnisse. Und dazu gehört auch eine offene Neugier für seine Glaubensvorstellungen. Die Einbeziehung der Lebenswelt hilft, ressourcenorientiert und ganzheitlich zu arbeiten. Das erfordert eine professionelle Haltung der Offenheit und auch die Fähigkeit, glaubens- und kultursensibel individuell auf Menschen einzugehen.

Text: Anke Pieper

Der 4. Trialog im Rauhen Haus

Am 21. September 2021 fand im Rauhen Haus der 4. Trialog statt. Diesmal zum Thema Teilhabe fördern – Was braucht es dafür?

Moderiert wurde die Diskussion von Pastor Dr. Andreas Theurich, Vorstand der Stiftung Das Rauhe Haus. Am Austausch nahmen teil:

  • Lita Baumeister, Gesundheitsberaterin im Gesundheitskiosk Billstedt, wo Menschen zu allen Gesundheitsfragen in sieben Sprachen beraten werden, sowohl bei Krankheiten und chronischen Leiden, als auch präventiv.
  • Hédi Bouden, Lehrer und Kulturbeauftragter am Helmut-Schmidt-Gymnasium Wilhelmsburg, der u. a. mit Theaterprojekten die Teilhabe von Schüler:innen fördert und Stadtteilbbewohner:innen einbezieht.
  • Julia Rieger, Fachdienst Flüchtlingsarbeit und Integrationsprojekte, Caritas Hamburg, fördert die Kontakte und Begegnung zwischen Stadtteilbewohner:innen und Geflüchteten.
  • Claudia Schmidt, setzt sich als Lehrerin an der Wichern-Schule in Horn für ressourcenorientierte Arbeit und Reformpädagogik ein.
  • Ulrike Stelljes, Leiterin des Stiftungsbereiches Teilhabe mit Assistenz, Das Rauhe Haus, fördert Teilhabe von Menschen mit Assistenzbedarf in der Arbeitswelt, beim Sport und beim Wohnen.