Wenn ein junger Mensch sich zurückzieht, nicht mehr mit Fragen oder mit glaubens- und kultursensiblen Gesprächsangeboten zu erreichen ist und sein Verhalten auf eine religiöse Radikalisierung hindeutet, was können Fachkräfte dann tun? Wie lässt sich ein Jugendlicher in diesem Fall noch erreichen? Das Team einer Jugend-Wohngruppe hat eine solche Situation erlebt. Ein hinzugezogener Imam konnte Verhaltensveränderungen bewirken.
Als der Jugendliche in die Wohngruppe einzog, war er zunächst eher still und zurückhaltend. Das Team bemühte sich, ihn kennenzulernen, besser zu verstehen und in die Gruppe zu integrieren. „Er erzählte, dass er zum Beten in die Blaue Moschee gehe. Wir fragten neugierig, wie es da sei, was er dort erlebe“, sagt Durdica Zugec-Brunstein, Leiterin einer Wohngruppe, die zum Rauhen Haus gehört. Der Jugendliche antwortete nur wenig und verschloss sich zunehmend. Einige Zeit später äußerte der neue Mitbewohner seltsame Wahrnehmungen, sah bei Kolleg:innen des Teams „Teufel“ auf der Schulter sitzen, sprach sie verächtlich als „Ungläubige“ an und fabulierte von schwarzen und weißen Rittern. Aus seinem Zimmer war häufig zu hören, wie er sich auspeitschte. Nachts sprach er seine Gebete so laut, dass die anderen davon aufwachten. „Er veränderte sich in seinem ganzen Wesen“, erzählt Zugec-Brunstein, „die Mitbewohner:innen entwickelten Angst vor ihm und fühlten sich bedroht.“
Externe Hilfe frühzeitig einbeziehen
Als der Jugendliche im Gespräch mit einer Fachkraft Bewunderung für Selbstmordattentate äußerte, informierten die Teammitglieder vorsorglich das Landeskriminalamt. Das Team spürte deutlich, dass es mit seinen Mitteln nicht weiterkam und der Jugendliche nicht bereit war, mit ihnen über seine religiösen Praktiken zu sprechen. Mit den Vorgesetzten im Rauhen Haus überlegten sie, wer von extern hinzugezogen werden könnte. Die Wahl fiel auf einen islamischen Geistlichen, zu dem im Rauhen Haus bereits gute Kontakte bestanden. Er wurde gebeten, ein Gespräch mit dem Jugendlichen zu führen. Der Imam der Al-Nour-Moschee, Samir El-Rajab, war gern dazu bereit. „Er kam mit einem Mitarbeiter und einem Übersetzer in die Wohngruppe“, erinnert sich die Teamleiterin, „beim Gespräch sollte ich dabei sein. Der Dolmetscher übersetzte für mich alles, was in der Muttersprache des jungen Mannes gesprochen wurde.“
Imam sucht die Wohngruppe auf
Der Bewohner der Wohngruppe erlebte diese Situation vermutlich auch als Wertschätzung seiner Person: „Das alles fand ja nur für ihn statt, das hat er deutlich gespürt“, so Durdica Zugec-Brunstein. „Da saß nun der Imam mit zwei Mitarbeitern in unserem Aufenthaltsraum und redete freundlich und zugleich streng mit ihm.“ Der Imam erkundigte sich, ob er gerne in die Moschee gehe und wollte wissen, wie er bete. Er lud ihn ein, in seiner Moschee laut mitzubeten. Er erläuterte dem Jugendlichen, dass er als Imam die von ihm betriebene Selbstgeißelung keineswegs gutheiße. Dann sprach er über Respekt. Ob der Jugendliche wisse, wie wichtig Respekt gegenüber Mitbewohner:innen, Lehrer:innen und Betreuer:innen sei? Ob er wisse, wie sehr das Team sich für ihn einsetze? Die Sozialpädagogin ist überzeugt: „Der Imam hat den Jugendlichen in seinem Glauben abgeholt. Damit konnte er ihn erreichen. Er hat ihm ins Gewissen geredet, ihn auch kritisiert und darauf hingewiesen, dass er sich freuen solle über die Hilfe, die er hier erhält.“
Das Gespräch wirkt nach
Nach dem Gespräch verließ der junge Mann den Aufenthaltsraum. Der Imam wiederholte, dessen Verhalten sei nicht in Ordnung, und er scheine ihm insgesamt in seinem Glauben noch nicht gefestigt. Das Gespräch mit dem Imam und dessen eindringliche Worte zeigten Wirkung: Der Jugendliche war anschließend deutlich ruhiger, nicht mehr so aggressiv und laut.
Nach dieser Erfahrung rät Zugec-Brunstein Kolleg:innen, in ähnlichen Fällen frühzeitig Rat von außen in Anspruch zu nehmen: „Idealerweise noch bevor sich etwas verfestigen kann, also präventiv. Natürlich sollte man den Fall mit den Vorgesetzen diskutieren und Netzwerke im Stadtteil nutzen, um Informationen zu sammeln.“
Das Team der Wohngruppe ist sicher: Bei einer religiösen Radikalisierung ist es empfehlenswert und aussichtsreich, einen Vertreter der betreffenden Religion hinzuzuziehen. Idealerweise spricht man für diese Aufgabe eine Person an, zu der ein vertrauensvoller Kontakt besteht. Im Gespräch mit einem Vertreter ihrer eigenen Religion fühlen Gläubige sich verstanden und können Rat besser annehmen. Zumal wenn er mit Erklärungen und Zitaten aus dem gemeinsamen Glauben untermauert wird, wie es der Imam im Gespräch mit dem Jugendlichen tat. So konnte dieser anschließend weiter in der Wohngruppe leben. Nach seinem 18. Geburtstag hat der junge Mann die Einrichtung verlassen.
Lektüre-Tipp zum Thema Religion in der Lebenswelt
Der Erziehungswissenschaftler Prof. em. Dr. Hans Thiersch bezieht in einem Interview dazu Position. Wenn die religiöse Praxis und religiöse Auffassungen in den Mittelpunkt rücken, könne dies nicht mehr allein pädagogisch bearbeitet werden, vielmehr brauche es dafür theologische Kompetenz: „Religiöse Auseinandersetzungen müssen religiös geführt werden.“ Das Interview können Sie nachlesen in:
Matthias Nauerth, Kathrin Hahn, Michael Tüllmann: Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit. Positionen, Theorien, Praxisfelder. Stuttgart 2017, S. 29-40