Drei Fragen an Dr. Peter Marquard und Michael Tüllmann

Das Projekt „Lebenswelten im DialogGlaubens- und kultursensible Praxis in Hamburg-Mitte“ läuft im Herbst 2021 in seiner jetzigen Form aus. Zwei, die maßgeblich zu seinem Gelingen beigetragen haben, blicken im Interview zurück und nach vorn.
Der Diplom-Sozialpädagoge und Diakon Michael Tüllmann hat den Stiftungsbereich Kinder- und Jugendhilfe des Rauhen Hauses zehn Jahre geleitet. Ab 2012 entwickelte er für die ressourcenorientierte Pädagogik den religions- und kultursensiblen Ansatz, der inzwischen unter anderem eine Vertiefungsrichtung im Bachelor-Studium Soziale Arbeit an der Ev. Hochschule Hamburg ist. Auch als er 2015 in den Ruhestand ging, setzte er die inhaltliche Arbeit fort.
Dr. Peter Marquard übernahm die Stiftungsbereichsleitung von Michael Tüllmann und ab 2019 außerdem die Geschäftsführung für das im Austausch mit dem Bezirk Hamburg-Mitte neu entstandene Projekt „Lebenswelten im Dialog“. Kurz bevor sich Dr. Peter Marquard im August 2021 in den Ruhestand verabschiedete, befragten wir ihn und Michael Tüllmann zur Bedeutung von Glaubens- und Kultursensibilität in der ressourcenorientierten Sozialen Arbeit – auch im Hinblick auf große Herausforderungen wie Pandemie und Klimakrise.

Was haben Sie aus diesem Projekt an neuen Impulsen mitgenommen?

Dr. Peter Marquard: Was mich von Beginn an begeisterte, ist die Ressourcenorientierung von „Lebenswelten im Dialog“. Das Projekt zeigt alltagspraktisch und auch fachlich fundiert, dass Aspekte von Glaubens- und Kultursensibilität mit der alltäglichen Lebenswelt aufs Engste verknüpft sind. Anders gesagt: Wenn man als Sozialpädagoge ressourcenorientiert arbeiten möchte, muss man um die Bedeutung von Glauben, Kultur und Vielfalt wissen. Das Projekt hat mir ermöglicht, dies intensiv und praxisbezogen zu durchdringen. Privat habe ich bei mir nahestehenden Menschen die Entwicklung von persönlichen Ressourcen miterlebt: wie anstrengend das ist, aber wie viel es andererseits bewirken kann. Insofern ist das Projekt Glaubens- und Kultursensibilität für mich in jeder Hinsicht eine echte Bereicherung.

Michael Tüllmann:Lebenswelten im Dialog“ hat uns ressourcenorientiert auf Projekte in verschiedenen Stadtteilen und Arbeitsbereichen in der Mitte Hamburgs schauen lassen, wo bereits Glaubens- und Kultursensibilität praktiziert wird. Da ist viel zu entdecken und oft wissen wir voneinander wenig, obwohl wir nur wenige Kilometer voneinander entfernt an ähnlichen Zielen arbeiten. Wir kamen mit einer bunten Vielfalt an konstruktiver Offenheit in Kontakt. Mögliche Wege eines besseren gesellschaftlichen Zusammenlebens in Vielfalt wurden uns aufgezeigt, und wir konnten sie veröffentlichen. Dies sollte kontinuierlich weiter geschehen. Gleichzeitig wurde mir bewusst, wie wichtig es ist, diese Projekte in einer Community miteinander in Kontakt zu bringen. Nur so wird es gelingen, Synergien zu entdecken und zu nutzen, erstarrtes Festhalten an dem Gestrigen aufzuweichen und mutiger in die Zukunft zu schauen.

Wir leben in der Pandemie und in der Klima- und Umweltkrise. Brauchen wir zukünftig noch Diversitätsfreundlichkeit oder wird das zum Luxusthema?

Dr. Peter Marquard: Ich bin überzeugt, dass wir eine besondere Haltung, Moral, Ethik, eine Rückbindung an Werte und zu Menschen brauchen, um die Belastungen unserer Zeit zu ertragen. Wir brauchen die anderen und die Fähigkeit, mit ihnen in den Dialog zu kommen. Das ist kein Luxus. Werte können Halt geben; ebenso Menschen, die mir das Gefühl geben, Schwieriges mit ihnen gemeinsam durchstehen zu können. Angesichts der Pandemie, der Flutkatastrophe im eigenen Land, ganz aktuell der Situation in Afghanistan und der Umweltkrise: Wie können wir noch ruhig schlafen und uns über etwas freuen, wenn wir uns dies alles vergegenwärtigen? Trotzdem stehen wir jeden Morgen auf und machen unseren Job. Was ermöglicht uns, handlungsfähig zu bleiben? Das kann nur die Erfahrung von Solidarität sein. Wenn man sich die Unterschiedlichkeit von Lebenslagen vorstellt, ist auch klar, dass wir die Krisen nur mit Sensibilität für diese Vielfalt bearbeiten können. Wenn mir bewusst ist, ich kann und will das nicht allein, dann ist damit klar, dass ich auf die Zugänge und Blickwinkel anderer Menschen Rücksicht nehmen muss. Nehmen wir das Beispiel Corona: Man kann eine Position einnehmen, die wissenschaftlich begründet ist. Aber ich muss auch an diejenigen herankommen, die skeptisch sind und Vorbehalte haben, um mit ihnen darüber zu kommunizieren. Ob sie sich meiner Meinung anschließen oder nicht, wir müssen einen Umgang miteinander finden. Es gibt leider Menschen, die zu so einer Auseinandersetzung nicht bereit sind. Das ist schade, denn sie sind für den gemeinsamen Diskurs verloren. Dennoch lässt sich auch am Beispiel von Corona die Bedeutung von Vielfalt einerseits und Solidarität andererseits ganz gut durchspielen.

Michael Tüllmann und Peter Marquard | Lebenswelten im Dialog

Michael Tüllmann (li) und Dr. Peter Marquard (re) im Gespräch über Glaubens- und Kultursensibilität. Foto: Karin Desmarowitz

Michael Tüllmann: Ich stimme Ihnen zu, Solidarität wird gerade noch wichtiger. Und die Glaubens- und Kultursensibilität wird in ihrer Bedeutung in diesen großen und anhaltenden Krisen existenzieller. ‚Wir sind doch alle nur Menschen!‘  Diese Feststellung hört man manchmal, wenn Überforderung droht. Sie klingt banal, weist aber auf zwei entscheidende Punkte in Situationen hin, in denen die Herausforderungen größer erscheinen als die vorhandenen Fähigkeiten, sie zu meistern. Einmal geht es um das Bewusstsein, dass jedes Ich aus der gleichen Quelle existiert. Aus dem uns allen gegebenen Menschsein entsteht die Einmaligkeit jedes Individuums. Das Bewusstwerden dieser Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Quelle menschlichen Seins schützt vor Egoismen und stärkt kollektives Handeln. Es verleiht der jetzt geforderten Solidarität Tiefe und Weite. Auf diesen Zusammenhalt warten Menschen in einer existenziell bedrohten Umwelt weltweit. Gleichzeitig wird mit dem Hinweis, dass wir nur Menschen sind, die Grenze menschlichen Könnens angesprochen. Glaubens- und kultursensibel fragen wir, an welche Kräfte Menschen jenseits dieser Grenze glauben und entdecken dabei Ressourcen, mit Grenzerfahrungen umzugehen.

Wie wird sich Soziale Arbeit verändern? Wird sie wieder politischer?

Michael Tüllmann: In Zeiten von Pandemien und anderen Bedrohungen und Katastrophen werden schon immer bestehende Lebensrisiken und die ungleiche Verteilung von Wohlstand öffentlich stärker wahrgenommen und damit zu Themen von Politik. Soziale Arbeit wendet sich zu einem großen Teil an Menschen, die bereits eine offizielle Bestätigung vorweisen können, einen Bedarf an Hilfe zu haben. Das ist ein bisschen so, als würden wir auf den Spitzen großer Eisberge arbeiten. Denn wir wissen, es gibt noch viel mehr Menschen, die in prekären Lebensverhältnissen versuchen, ihren Alltag zu gestalten. In den Zeiten des Lockdowns wurden aus prekären Lebensverhältnissen oft existenzielle Krisen. Die Soziale Arbeit machte in diesen Zeiten unterschiedlichste Grenzerfahrungen. Ich hoffe sehr, dass aus diesen Erfahrungen Suchbewegungen für eine Zukunft jenseits dieser Grenzen werden und dass wir daraus Neues entwickeln. Unter anderem ist die Soziale Arbeit herausgefordert, eine neue Balance zwischen individueller Hilfe einerseits und einer konzeptionell stärker politisch ausgerichteten Gemeinwesenarbeit zu finden. So lässt sich einerseits kollektives Handeln in sozialen Räumen stärken und andererseits können neue Ressourcen erschlossen werden. Wenn wir die Menschen mit ihren Lebensrisiken nicht alleinlassen, sind sie mit deutlich größerer Wahrscheinlichkeit bereit, Maßnahmen zu unterstützen, die dem Gemeinwohl dienen.

Dr. Peter Marquard: Wenn ich auf die letzten Jahrzehnte zurückblicke, dann sehe ich große Themen, die immer wieder neu akzentuiert wurden und doch im Grunde gleichgeblieben sind. Das Gefühl, von menschengemachten Krisen bedroht zu sein, ist nicht neu. Schon in den 80-er Jahren haben wir die existenzielle Bedrohung durch Atomkraft und nukleare Waffen sehr deutlich empfunden und auch die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen war damals bereits Thema. Sie steht in direktem Zusammenhang mit dem inzwischen auch vor unserer Haustür angekommenen Klimawandel. Die Herausforderung für uns Menschen ist, mit den Ressourcen dieser Erde verantwortungsvoll umzugehen. Wir müssen beim Suchen nach Antworten die Meinungen anderer respektieren und trotzdem miteinander um echte Lösungen ringen. Das bedeutet für die Soziale Arbeit: Wir brauchen immer den Bezug zu den drängenden gesellschaftspolitischen, ökonomischen und ökologischen Fragen. Denn diese Faktoren bestimmen maßgeblich die Lebenswelten, die Ressourcen und die Alltagserfahrungen der Menschen, die wir begleiten und fördern möchten. Deshalb dürfen wir die soziale Ungleichheit als weiteres Langzeit-Thema nicht vernachlässigen: Sicher wurde in den 70-er und 80-er Jahren die Debatte darüber hierzulande anders geführt. Es ist aber wissenschaftlich belegt, dass sich der Unterschied zwischen Arm und Reich, Gebildeten und Ungebildeten weiterhin in keinem anderen Industrieland so gravierend auseinander entwickelt; das hat Auswirkungen im gesellschaftlichen Alltag, auf das Bewusstsein der Menschen, auf ihr Gefühl integriert oder ausgeschlossen zu sein. Das bleibt eine dramatische Herausforderung, die wir, wenn wir die übrigen Krisen ernsthaft angehen wollen, nicht hintanstellen dürfen.

Die Fragen stellte Anke Pieper.