„Wir respektieren Glauben und Kultur, aber Regeln gelten für alle gleich“: Bezirksamtsleiter Falko Droßmann über Verwaltungshandeln und Diversität in Hamburg-Mitte. Seit 2016 leitet der Berufssoldat und studierte Historiker Falko Droßmann das Bezirksamt Hamburg-Mitte. Seine Mitarbeitenden sind im Alltag gefordert, das Neutralitätsgebot zu beachten und zugleich glaubens- und kultursensibel mit Nutzerinnen und Nutzern der bezirklichen Einrichtungen umzugehen. Dabei erleben sie unterschiedlichste Erwartungen an Verwaltungshandeln und müssen auch mal freundlich-selbstbewusst auf Grenzen hinweisen.

Herr Droßmann, die Verwaltung soll sich grundsätzlich neutral verhalten. Ist das eine Rechtfertigung, sich mit kultureller und religiöser Vielfalt gar nicht beschäftigen zu müssen?

So darf es nicht sein! Beides ist wichtig, das Neutralitätsgebot ebenso wie ein glaubens- und kultursensibles Vorgehen. Ich gebe dazu gern ein paar Beispiele: In einem Haus der Jugend im Stadtteil will eine Gruppe Jugendlicher beten und verwehrt Andersgläubigen den Zugang. Wenn dann die Fachkraft einschreitet, bekommt sie zu hören: ‚Sie dürfen sich hier nicht einmischen, der Staat muss sich neutral verhalten.‘ Das stimmt, der Staat darf sich tatsächlich nicht auf die eine oder andere Seite stellen. Aber genau deshalb müssen wir dafür sorgen, dass sich alle Jugendlichen gleichermaßen willkommen fühlen im Haus der Jugend. Auch das folgt aus dem Neutralitätsgebot. Glaubens- und kultursensibel sollte vor allem die Art sein, wie wir erreichen, dass dieses Gebot beachtet wird.

Ein anderes Beispiel, aus dem Meldewesen: Die weibliche Angehörige einer Religion weigert sich, ihr Gesicht zu zeigen und will trotzdem ein Legitimationsdokument haben. Oder der Besucher im Bereich Grundsicherung, der sich nicht von einer weiblichen Beschäftigten des Bezirksamts bedienen lassen möchte. Der Staat habe ihre Religion zu achten und sich ansonsten neutral zu verhalten, wird dann argumentiert.

Falko Droßmann, Bezirksamtsleiter Hamburg-Mitte

In allen diesen Fällen muss man sehr deutlich sagen: Wir achten auf Kultursensibilität, wir respektieren den Glauben, aber wir müssen alle Grundrechte berücksichtigen, vor allem Artikel 1 des Grundgesetzes, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Das steht über allem und gilt für alle, unabhängig von religiösen Bekenntnissen. Wir sind also in vielen Arbeitsbereichen gefordert, Glaubens- und Kultursensibilität aufzubringen und zugleich das Neutralitätsgebot umzusetzen.

Wie entscheiden die Mitarbeitenden in der Praxis?

Natürlich kann jede und jeder ein Haus der Jugend besuchen, ohne sich religiösen Standards zu unterwerfen. Natürlich muss das Gesicht gezeigt werden, wenn es darum geht, Legitimationsdokumente auszustellen. Über 70 Prozent unserer Beschäftigten sind weiblich und natürlich hat kein Bürger das Recht, aufgrund seiner Wertvorstellungen zu entscheiden, welche Mitarbeitenden ihn bedienen. Da ist eine Grenze erreicht. Und wir schulen unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auf diese Grenze selbstbewusst hinzuweisen.

Auf das Neutralitätsgebot verweisen vor allem Nutzerinnen und Nutzer, im Sinne eines Abwehrrechts gegenüber städtischen Maßnahmen. Das geschieht relativ oft und damit müssen wir umgehen. Wir müssen dann erklären, was dieses Neutralitätsgebot ist – und was nicht.

Was bedeutet Neutralität für die Zusammenarbeit mit weltanschaulich oder religiös geprägten Trägern?

Sowohl kulturelle als auch religiöse Gemeinschaften haben in unserem Staat eine wichtige Rolle. Anders als etwa in Frankreich, wo es eine radikale Trennung gibt. Deshalb sind wir gefordert, zusammenzuarbeiten, und das tun wir auch in großem Umfang. Ein großer Anbieter von Hilfen zur Erziehung ist zum Beispiel die Diakonie, also eine kirchlich geprägte Organisation. Im Bezirk Mitte ist in vielen Bereichen Das Rauhe Haus tätig. Das ist historisch gewachsen und aus meiner Sicht auch heute sinnvoll. Es bleibt den Menschen freigestellt, diese Einrichtungen aufzusuchen, und sie alle sind nicht missionarisch tätig. Würden sie jedoch ihren religiösen Zweck in den Vordergrund stellen, müssten wir dringend ein Gespräch mit diesen Partnern führen. Was diese Organisationen im Inneren antreibt, mag ein evangelischer, katholischer, muslimischer oder ein anderer religiöser Hintergrund sein. Ich bin ein Fan dieser Trägervielfalt.

Wo brauchen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bezirksamt Glaubens- und Kultursensibilität?

Eigentlich in allen Arbeitsbereichen. Ein Beispiel: Unsere Lebensmittelkontrolleure sehen bei einem Gemüsehändler Tomaten, die ihre besten Tage hinter sich haben und nicht mehr verkauft werden dürfen, auch nicht für einen Euro pro Stiege. Aber der Händler entgegnet: ‚Das ist genau der Zustand, in dem viele Leute diese Tomaten kaufen wollen, weil sie daraus ein bestimmtes anatolisches Gericht kochen.‘  Hier wird selbst eine Lebensmittelkontrolle kultursensibel. Die Kontrolleure werden nicht einfach sagen ‚Geht nicht‘, sondern zum Beispiel erklären, warum der Verkauf dieser Tomaten in Hamburg nicht geduldet wird – auch wenn er auf den Lebensmittelmärkten anderer Länder üblich sein mag.

Ein anderes Beispiel: Die Baubehörde prüft einen Bauantrag anhand des Planungsrechts. Aber es ist ein Unterschied, ob jemand ein Gewerbeobjekt bauen möchte oder eine Moschee. Wir prüfen, wie sich die Moschee in die Nachbarschaft einfügen kann. Wann finden die Gebete statt? Wie viele Menschen sind zu erwarten und kommen sie mit dem Auto? Wenn die Vertreter der Moscheegemeinde dann in der Behörde vorsprechen – beseelt von der Idee, ein neues Moscheegebäude zu errichten –, kommen wir mit so etwas Profanem wie Stellplatznachweisen! Natürlich gilt es da, glaubens- und kultursensibel vorzugehen.

Ein drittes Beispiel, aus dem Bereich der Grundsicherung: Kann man in strenggläubigen Familien die Sozialhilfe – um diesen vereinfachten Begriff zu verwenden – auf das Konto des Mannes überweisen, weil die Frau keine Erlaubnis bekommt, ein eigenes Konto zu eröffnen? Auch das hat mit Glaubens- und Kultursensibilität zu tun. Man kann nicht einfach sagen, unter diesen Bedingungen gibt es kein Geld. Sondern wir müssen mit dem Ehepaar oder auch im Einzelgespräch mit der Frau eine Lösung finden. So gibt es im Bezirksamt kaum noch Arbeitsbereiche, wo Mitarbeitende sagen könnten, ‚Glaubens- und Kultursensibilität brauche ich nicht‘.

Warum wären Sie nicht zufrieden, wenn Ihre Mitarbeitenden einen Antrag kurz und knapp ablehnen, bei dem die Anforderungen nicht erfüllt sind?

Wir haben als öffentlicher Dienst eine dienende Funktion. Wir sollen die Regeln umsetzen, die sich diese städtische Gemeinschaft für das Zusammenleben gegeben hat. Deshalb muss man sich immer fragen, was hatte der Gesetzgeber im Sinn mit den einzelnen Regelungen. Und wann immer es einen Ermessensspielraum gibt, muss er auch angewandt werden, das erwarte ich von meinen Mitarbeitenden.

Um das Beispiel Baurecht und Moscheegemeinden aufzugreifen: Allein in St. Georg haben wir mehr als 60 Moscheegemeinden, die oftmals in Hinterhöfen oder Garagen arbeiten. Nun ist aber jeder soziale Zusammenhalt in unserem Bezirk wichtig. Deshalb können wir nicht einfach die Nutzung einer Tiefgarage verbieten, weil es neue Brandschutzregeln gibt oder die Besucherzahl zu groß geworden ist – und jede Alternative verhindern. Wir werden niemals gegen Recht und Gesetz verstoßen, aber vielleicht können wir gemeinsam mit der Moscheegemeinde etwas entwickeln. Möglicherweise entsteht ein neues Gebäude – aber kleiner als geplant. Oder ohne das muslimische Internat, das auch noch vorgesehen war. Einfach nur ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ zu sagen, das geht jedenfalls schon lange nicht mehr.

Das heißt: Sie müssen nach neuen Wegen suchen?

Genau das tun wir. Am Beispiel des Meldewesens, wo eine Besucherin nicht ihr Gesicht zeigen will: Wir haben im Kundenzentrum einen eigenen Raum hergerichtet. Eine weibliche Beschäftigte geht dann mit der Frau hinein und vor ihr lüftet diese dann den Gesichtsschleier.

Die Mitarbeitenden sollen respektvoll kommunizieren mit Menschen, die andere Vorstellungen haben, und sich in den Entscheidungen nicht beeinflussen lassen. Eine Herausforderung?

Ich glaube, das haben hier alle verinnerlicht, denn es ist wichtig! Im Bezirk Hamburg-Mitte haben über die Hälfte der Menschen einen Migrationshintergrund, bei den unter 18-Jährigen sind es knapp 75 Prozent. Wir sind der bunteste Bezirk und das erleben wir auch im Bezirksamt täglich. Wer mit dieser Vielfalt nicht zurechtkommt, diese Kultur- und Religionssensibilität nicht aufbringt, wird hier nicht mit Freude arbeiten und nicht lange bleiben.

Ist die Art, wie Bürgerinnen oder Bürger auf die Verwaltung zugehen, auch kulturell geprägt?

Ja klar. Mancher glaubt beispielsweise, wenn er die Telefonnummer des Bezirksamtsleiters hat, braucht er den normalen Verwaltungsweg nicht zu beschreiten (lacht). Wir erklären dann, wie die Regeln sind. Gerade gestern hatte ich eine Gruppe hier, die sehr erstaunt war, dass öffentliche Aufträge ausgeschrieben werden. Sie dachten, als Amtsleiter könnte ich das Geld einfach ausgeben.

Die Macht der öffentlichen Verwaltung zu begrenzen ist wichtig. Es gelten für alle die gleichen Regeln, unabhängig von Bildung oder Herkunft. Auch unabhängig davon, mit welchen Erwartungen er oder sie uns aufsucht. Wir haben sicherzustellen, dass hier jeder gleich behandelt wird. Gleich gut hoffentlich!