Mit einer Person reden, die offenbar fundamentalistisch ist? Bloß das nicht. – Falsch! Denn ein Gespräch birgt große Chancen. Im Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis räumte ein Trialog am Rauhen Haus durch Einbezug vieler Fallbeispiele mehrere falsche Annahmen über Fundamentalismus aus dem Weg.
Mythos 1: Wenn jemand sich fundamentalistisch gibt, ist ein Gespräch zwecklos
Eltern melden ihr Kind vom Schwimm- oder Religionsunterricht oder von der Klassenfahrt ab. Häufige Reaktion vonseiten der Schule: Sie fordert die Einhaltung von Regeln – wäre ein Gespräch nicht ein völlig falsches Signal? Fachkräfte, die dennoch in den Dialog mit den Eltern gehen, erleben dagegen oft etwas anderes: Vor allem Verunsicherung und Sorge um das Wohl des Kindes waren der Auslöser für deren Entscheidung.
Im Dialog können konstruktive Lösungen gefunden werden. Dafür reicht es jedoch nicht, nur über Verhaltensweisen zu sprechen, etwa die Abmeldung vom Schwimmunterricht. Ziel muss es sein, die zugrundeliegende Haltung zu thematisieren, um sie professionell zu bearbeiten. Das gelingt nur, wenn dabei nicht bewertet wird.
Ebenso in Gesprächen mit Heranwachsenden: Eine Schülerin fastet extrem, zieht sich immer mehr zurück, ihr Schulabschluss ist in Gefahr. Ein Viertklässler erklärt, er wolle in den Krieg ziehen. Beiden gelingt in Gesprächen über einen längeren Zeitraum, belastende Erlebnisse zu reflektieren, die sie in eine fundamentalistische Richtung gedrängt hatten. Sie stabilisieren sich.
Es kann sehr schwierig sein, solche Gespräche zu beginnen. Doch es ist sinnvoll, sich selbst mehrere Versuche abzuverlangen. Manchmal wird auch dies nicht zum Erfolg führen. Aber wenn frühzeitig Vertrauen entsteht, kann dies Wege aus der Isolation öffnen.
Mythos 2: Religion ist das Problem
Als Fundamentalisten wurden zuerst evangelikale Protestanten in den USA bezeichnet. Das „Fundament“ ist eine Grundlage, auf der sich bauen lässt, es steht für Prinzipientreue und Entschiedenheit. Der „Ismus“ kommt hinzu, wenn die eigene Weltsicht für allein gültig gehalten wird.
Alle Religionen tragen das Potenzial für Radikalismus oder Fundamentalismus in sich, genauso wie politische und gesellschaftliche Ideologien. Religiöser wie auch politischer Radikalismus können zur Missachtung von Menschenrechten und Gewalt führen. Bezogen auf die Religion bedeutet dies: Die Übersteigerung ist das Problem, nicht die Religion selbst. Das zeigt sich in der glaubens- und kultursensiblen Praxis: Der religiöse Glaube kann sowohl fundamentalistische Züge annehmen, kann aber auch andererseits Kraft geben, um sich von einer destruktiven fundamentalistischen Haltung abzulösen.
Mythos 3: Fundamentalismus ist mir fremd
In einer unübersichtlicher werdenden Welt halten die verschiedenen Ausprägungen von Fundamentalismus faszinierend einfache Antworten bereit. Zum Beispiel für Menschen, die ihre Würde verletzt sehen oder deren Integrationsversuche misslangen. Fundamentalismus kann eine Reaktion auf permanente Stigmatisierung sein oder der Versuch, ein Trauma zu bewältigen. Er gibt ein Gefühl von Sicherheit, Zugehörigkeit und Überlegenheit. Das kann befremden, doch wirklich fremd ist es nicht.
Auch wer nicht religiös ist oder sich als säkular versteht, kann von einfachen Antworten fasziniert sein. Zum Beispiel, wenn er oder sie die Möglichkeit kategorisch ablehnt, Glaube oder Religion könnten für andere Menschen etwas Positives sein. Ein Überlegenheitsgefühl verleitet dazu, an Menschen nur ihr Anders-Sein wahrzunehmen. Dies verhindert den Dialog. Denn dafür müssen Menschen sich ernst genommen fühlen mit dem, was ihnen wichtig ist.
Mythos 4: Auf Vorfälle muss sofort mit voller Härte reagiert werden
Die Dinge sind oft komplizierter, als sie sich auf den ersten Blick darstellen. Deshalb ist ein besonnener zweiter Blick wichtig. Oft scheint dafür – zum Beispiel bei eskalierenden Konflikten – keine Zeit zu sein. So kann beispielsweise an Schulen in kurzer Zeit ein gewaltiger Druck entstehen, auf extreme Vorfälle mit demonstrativer Härte zu reagieren. Ein Streit zwischen Schülerinnen und Schülern auf dem Schulhof endet in einer üblen Beschimpfung. Daraufhin droht die Schulleitung unmittelbar mit Schulverweis. Allzu schnell lässt man sich in eine Dynamik hineinziehen, die in der Transaktionsanalyse als Drama-Dreieck bezeichnet wird. Man schlüpft in die Rolle der Retterin oder des Retters, statt den möglichen Täter und das mögliche Opfer zu trennen, die Situation unvoreingenommen zu beurteilen und professionell zu bearbeiten. Hier ist nicht nur die individuelle Fachlichkeit gefragt, auch die Strukturen können Mitarbeitende unterstützen. Präventiv kann die Leitung mit dem Team für typische Krisensituationen Entscheidungswege und Abläufe vorbereiten. Jede und jeder im Team weiß dann in der Situation, was zu tun ist und wo Unterstützung zu finden ist.
Mythos 5: Sensibilität kennt keine Grenze
Sensibilität ist nicht das Gleiche wie Naivität. Wer professionell einen glaubens- und kultursensiblen Dialog sucht, hat sich darauf vorbereitet. Er oder sie kennt die eigenen kulturellen Prägungen und hat das individuelle Verhältnis zu Religion(en) reflektiert. Dadurch wird es möglich, sich sensibel einzulassen, ohne sich den Standpunkt des Gegenübers zu eigen zu machen. Auch lässt sich der Dialog beenden, wenn Schutzrechte Dritter, zum Beispiel von Kindern, akut gefährdet sind oder wenn jemand sich bereits so weit radikalisiert hat, dass er oder sie durch ein Gespräch nicht mehr erreicht werden kann.
Fazit
Je unübersichtlicher eine Gesellschaft, desto faszinierender werden fundamentalistische Einstellungen. Ihnen professionell zu begegnen ist eine Herausforderung. Vor allem, wenn sie die Entwicklung von Kindern nachhaltig einschränken. Fachkräfte können sich jedoch darauf vorbereiten. Im glaubens- und kultursensiblen Dialog lassen sich Veränderungen bewirken. Wo dieser Dialog seine Grenze hat, hängt jeweils von der Situation und den beteiligten Personen ab. Werden Menschenrechte oder Gesetze verletzt oder persönliche Grenzen von Beteiligten überschritten? Hilfreich bei der Klärung dieser Fragen ist der Austausch im Team und die Vernetzung mit externen Expertinnen und Experten.
Foto: Karin Desmarowitz
Herausforderung Fundamentalismus:
Wie können wir ihm glaubens- und kultursensibel begegnen?» Download: Eine Handreichung
Der Trialog im Rauhen Haus
Am 4. Dezember 2019 fand im Rauhen Haus der Trialog „Fundamentalismen – Herausforderung für die ressourcenorientierte, glaubens- und kultursensible Pädagogik“, mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Wissenschaft und Praxis statt.
Als Vorsteher des Rauhen Hauses moderierte Dr. Andreas Theurich die Diskussion mit
- Prof. Dr. Matthias Nauerth (Ev. Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie);
- Katty Nöllenburg, Leiterin des Instituts für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation (ikm);
- Dr. Ali Özgür Özdil, Direktor des islamischen Wissenschafts- und Bildungsinstituts e. V. (IWB);
- Pastor Jörg Pegelow, Weltanschauungsbeauftragter der Nordkirche;
- Kader Polat, Lehrerin (Grundschule Oppelner Straße);
- Prof. i. R. Dr. Alexander Redlich, Institut für Psychologie, Universität Hamburg;
- Diplom-Sozialpädagogin Katja Röschmann (Das Rauhe Haus);
- Diplom-Sozialpädagoge Michael Tüllmann, Leiter des Projekts Glaubens- und kultursensible Praxis (Das Rauhe Haus).