Sieghard Wilm, Pastor in der St.-Pauli-Kirche, hat mit Menschen aus vielen Kulturen und Miiieus, mit unterschiedlichster Herkunft und Lebensform zu tun. Ohne Glaubens- und Kultursensibilität geht das kaum. In Zeiten der Corona-Einschränkungen ist Wilm als Seelsorger besonders gefordert. Er ist sicher: Es wird nach der Krise einen Neubeginn geben in dem Stadtteil, dessen Geschichte mit einer Pandemie begann.
Brauchen Sie als Pastor der St.-Pauli-Kirche Glaubens- und Kultursensibilität?
Sieghard Wilm: Auf jeden Fall! Auf St. Pauli leben Menschen verschiedener Kulturen, aus vielen Milieus und mit ganz unterschiedlichen Lebensformen zusammen. Die Fähigkeit, sich in andere hineinzudenken und mit Fremdheit einen Umgang zu finden, ist unverzichtbar. Im Gottesdienst kommen diese Menschen zusammen: die Alleinerziehende, der Transsexuelle, St.-Pauli-Fans natürlich, aber auch solche von Hansa Rostock, Menschen mit Gefängniserfahrung, mit Prostitutionserfahrung, Menschen aus der kreativen Szene, Politiker und Polizisten. Wir haben hier in einem Gottesdienst Kinder einer afrikanischen Familie und eines lesbischen Paares getauft.
Ich muss einen Ton finden, der die Menschen erreicht. Ich muss kommunizieren können mit ganz jungen und ganz alten Menschen und mit Menschen anderer Sprache und Herkunft – sogar, wenn ich kein einziges Wort verstehe. Wenn ich mich darum nicht bemühe, fühlen sich Menschen ausgeschlossen. Diesen Ton zu finden, der sie alle erreicht, ist eine Kunst, an der lernt man ein Leben lang.
Einiges davon kann man sich in Fortbildungen für Pastorinnen und Pastoren aneignen. Noch mehr helfen eigene Erfahrungen mit Fremdheit. Ich habe ein Jahr lang in Westafrika gelebt, das ist bis heute eine ganz wichtige Zeit für mich.
Wie wichtig ist ein offener Glaubensbegriff für Ihre Arbeit?
Sieghard Wilm: Man kann sich ja die Frage stellen, warum ausgerechnet der Apostel Paulus dem Stadtteil den Namen gibt. Ich glaube, das passt sehr gut. Paulus hat mitten in Athen einen Satz gesagt, der für mich sehr wichtig ist: „Niemandem von euch ist Gott fern.“ Er war dort umgeben von vielerlei Kulten, Ritualen und antiken Gottheiten. Und er unterstellt allen, dass es eine Nähe gibt. Es ist seine theologische Grundüberzeugung, dass Gott tatsächlich zwischen den Menschen ist – selbst wenn die Menschen selbst dies gar nicht artikulieren.
In meiner Gemeinde treffe ich auf ganz verschiedene Formen von Glauben. Viele Menschen verorten sich politisch links. Sie würden von sich sagen ‚Mit Kirche habe ich nichts zu tun. Sie hat als Institution eine Nähe zum Staat, das sehe ich kritisch.‘ Das gehört zu ihrem Glauben.
Und dann hat das Wort „Glaube“ in der deutschen Sprache etwas Schillerndes. Weil wir es auf zwei Arten verwenden, die gegensätzlich sind, geradezu widersprüchlich. Wenn wir sagen: „Ich glaube, morgen ist auch wieder schönes Wetter“, halten wir es für möglich, dann ist Glauben etwas Vages. Er fällt hinter das Wissen zurück, steht in Konkurrenz zum Wissen. Die andere Weise, wie das Wort Glauben im Deutschen verwendet wird, steht für eine Art Urvertrauen, ein Sich-Anvertrauen an eine Dimension, die größer ist als alles, was ich machen und denken kann. Dann ist der Glaube eine Kraft, die von keinem Wissen ersetzt werden kann.
Über diese beiden Dimensionen von Glauben muss man sprechen! Viele Menschen laufen da komplett in die Irre, weil sie nur den schwachen Begriff kennen: Glauben ist dann für die Nichtwissenden, für die Ahnungslosen. Aber Glauben in seiner zweiten Bedeutung ist vielmehr ein tiefes Sich-Anvertrauen und Lieben.
Auf St. Pauli bezogen: Die Leute hier wollen alle das Leben spüren und Party machen. Das ist genau der Ereignisraum für Glauben, für starke Gefühle.Viele Leute sagen und zeigen hier auch, was ihnen lieb und heilig ist. Die Menschen hier sind sehr individualistisch. Es macht gar keinen Sinn, sie mit irgendeinem vermeintlich richtigen Glauben zu konfrontieren. Jeder Mensch hat eine Biografie und ist damit ernst zu nehmen. Insofern gibt es auch keine falschen Sätze. Und Glaube verändert sich. Ich selbst beschreibe meinen eigenen Glauben jetzt in dieser Corona-Zeit ganz anders beschreiben als noch vor ein paar Monaten. Weil wir lebendig sind. Insofern ist auch das, was unser Herzensanliegen ist, immer in Bewegung. Das heißt, wir sind nie fertig, aber das ist wunderschön.
Wie gestalten Sie aktuell Seelsorge?
Sieghard Wilm: Ich telefoniere, schreibe Briefe und E-Mails, ich zeichne Videos auf und stelle sie ins Internet. Ich kümmere mich um Menschen in meiner Gemeinde. Viele waren schon vorher in Not und jetzt ist die Not noch viel größer. Aktuell gibt es jemanden, dem droht der Verlust seiner Wohnung, da versuche ich zu helfen. Menschen die vorher schon Einsamkeit verspürt haben, fühlen sich noch einsamer. Wer vorher schon eine Depression hatte, rutscht in eine noch tiefere. Corona ist wie ein Brennglas, ist Verstärker ganz vieler Nöte. Natürlich möchte ich weiter für die Menschen da sein. Es ist schwerer geworden, für die Menschen da zu sein, weil so vieles gerade nicht möglich ist. Ich gestehe auch ganz ehrlich: Bei manchen Situationen weiß ich aktuell nicht weiter. Es gehört jetzt dazu, diese Ohnmacht auszuhalten. Und auch die Widersprüche: Wir schränken Menschen aktuell ganz stark ein, um sie, um uns alle zu schützen. Aber was für ein Leben ist es, das ihnen bleibt? Und wie lange können wir es ihnen noch zumuten? Familien in engen Wohnungen. Kinder, die nicht auf den Spielplatz dürfen. Pflegeheimbewohner, die seit Wochen nicht vor die Tür kommen. Menschen mit Behinderung, die zu Hause bleiben müssen. Eine Kollegin von mir muss ein Kind beerdigen und die Großeltern dürfen nicht dabei sein. Das ist schwer zu verkraften.
Ich werfe mich Gott in die Arme auch in meinem Nichtwissen. Jeden Tag bete ich um 12 Uhr in der Kirche für meine Gemeinde. Dabei bleibt ein Gefühl der Ohnmacht. Aber auch dieses Leben in der aktuellen Lage will umarmt werden.
Wie verändert sich Ihr Glauben?
Sieghard Wilm: Manche Texte sagen mir aktuell nichts. Andere Texte oder ein Liedvers sprechen mich plötzlich an, wie diese Worte von Matthias Claudius, die wir alle kennen: „Seht ihr den Mond da stehen, er ist nur halb zu sehen. Und ist doch rund und schön. So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht seh’n.“ Ja wir sehen im Moment manches nicht. Ich sehe auch dieses blöde Virus nicht. Es ist unsichtbar, winzig klein und total mächtig. Und dann heißt es ausgerechnet „Corona“! Das ist der pure Hohn, wo doch der Mensch die Krone der Schöpfung ist.
Ich erlebe diesen Virus wie einen Fluch. Aber meine Schlüsselfrage ist, wie kann es mir, wie kann es uns zum Segen werden? Damit meine ich nicht, dass ich alles schönreden muss. Vieles an dieser Corona-Pandemie ist wirklich hässlich. Aber in manchen Momenten denke ich, das ist jetzt ein Segen, da ist etwas Schönes geworden.
Ich merke das an der größeren Nähe – trotz physischem Abstand. Man sagt sich jetzt eher, wie sehr man sich schätzt. Die Begegnungen die wir haben, die sind besonders. Wir spüren gerade stärker, was uns kostbar ist.
Kann es der Gemeinde helfen, dass sie schon schwere Krisen überstanden hat?
Sieghard Wilm: Die Gemeinde besteht seit 1682. In der Anfangszeit Zeit war auf St. Pauli sehr viel Kommen und Gehen. Und jetzt ist wieder eine Zeit, in der sich St. Pauli sehr verändern wird. Es wird nach der Corona-Krise nicht mehr dasselbe sein wie früher. Wir wissen jetzt schon, dass eine Pleitewelle anrollt. Es wird ganz viele leere Orte geben, wo vorher der Lieblingsclub oder die Kneipe war, vieles wird verschwinden.
Unsere Ur-Geschichte ist die einer diakonischen Gemeinde, die den Menschen ganz praktisch geholfen hat. Die Bewohner St. Paulis, das waren zunächst Kranke, die auf dem Pesthof vor den Toren Hamburgs leben mussten. Das ist der Anfang St. Paulis, der Pesthof! Er war die erste Stätte kirchlicher Arbeit. Und daraus wurde dann später die St.-Pauli-Gemeinde. Alles fing an mit einer Pandemie.
Unser heutiges Kirchengebäude ist jetzt 200 Jahre alt. Das hängt damit zusammen, dass der Stadtteil von den Truppen Napoleons komplett niedergebrannt wurde. 1814 war alles zerstört – auch die kleine Fachwerkkirche. Einer unserer Vorgänger war da bereits fast 50 Jahre Pastor der Gemeinde. Dann wurde seine Kirche abgebrannt. Was für eine Katastrophe! Verglichen damit ist das, was wir jetzt erleben, doch aushaltbar und gestaltbar.
Pastor Heidritter ist damals aber keineswegs verzweifelt. Sondern er setzte für den Bau der neuen Kirche sogar privates Vermögen ein. Er erlebte, wie eine neue Kirche gebaut und 1820 eingeweiht wurde. Der Stadtteil lebte wieder auf. Vielleicht machen diese Krisenerfahrungen die Stärke St. Paulis aus.
So haben die Hamburger Clubs und die Kirche eines gemeinsam: Sie glauben an die Wiederauferstehung! (lacht) Diese Dynamik, dass man kämpft, zusammensteht, wieder neu startet, die steckt im Stadtteil drin.
Foto: Sieghard Wilm