Im Bezirk Hamburg-Mitte leben ungefähr sechs Prozent Menschen mit einer Behinderung. Wie gut erreichen die Förderangebote die jüngsten von ihnen: Kinder, die mit einer Behinderung aufwachsen? Inwiefern braucht es Glaubens- und Kultursensibilität, um einen vertrauensvollen Kontakt zu ihren Familien herzustellen? Wir sprachen mit Diplom-Sozialpädagogin Susanne Sailer, die in der Kinder- und Jugendhilfe des Rauhen Hauses den Arbeitsbereich Integration und Sozialtherapeutische Hilfen leitet sowie mit Diplom-Sozialpädagogin und Diakonin Nadine Köhler, Teamleiterin Frühförderung über ihre Arbeit mit Babys, Kleinkindern und Kindern bis zum Schuleintritt. Sie berichten auch davon, wie sich die Corona-Pandemie auf die Frühförderung auswirkt.
Wirken sich Glauben und kulturelle Vorstellungen auf die Teilhabechancen der Kinder aus?
Susanne Sailer: Wir sprechen hier über unsere Beobachtungen in unserer Praxis, sie sind natürlich nicht repräsentativ! Wir erleben, dass Religion und Kultur deutlich die Art prägen, wie Familien mit einem Kind mit Behinderung umgehen. Dies kann förderlich sein, aber manchmal erschwert es auch Teilhabe. Die Herausforderung liegt eher bei uns, weil ein Verhalten uns Reflexion abverlangt: Was löst es bei mir aus und wie kann ich damit ressourcenorientiert umgehen?
Nadine Köhler: Wir betreuen neben deutschen Familien auch solche aus dem afrikanischen Raum, aus Osteuropa, aus der Türkei, aus arabischen und asiatischen Ländern. Wir schauen dabei immer auf die einzelne Familie. Jede ist anders. Sie wird auch durch ihre kulturellen Wurzeln und durch Glaubensvorstellungen besonders, das gilt auch für unsere eigenen Familien.
Welche Unterschiede in den Einstellungen zu Menschen mit Behinderung erleben Sie?
Susanne Sailer: Wir nehmen hier Unterschiede wahr. Diese basieren nicht nur auf kulturell und religiös geprägten Haltungen, sondern hängen auch von den realen Erfahrungen und Lebenssituationen der jeweiligen Familie ab. Viele Familien betrachten die Behinderung ihres Kindes zum Beispiel als eine Aufgabe, die ihnen auferlegt wurde. Wenn Vater und Mutter das beide so sehen, können sie gemeinsam ihr Kind gut versorgen und fördern, dieses besondere Kind, das sie bekommen haben. Dabei übernehmen oft die Mütter einen gro
ßen Teil der Aufgaben, aber es ist wichtig, wie der Partner zu diesem Kind steht. Diese Familien nehmen unsere Hilfe an.
Nadine Köhler: Die Eltern, vor allem die Mütter, geben sich sehr viel Mühe, gerade bei Kindern, die sehr langsam sind in ihrer Entwicklung. Sie bleiben auch wenn sie erwachsen sind in ihrer Familie, sie ziehen eher nicht in eigenen Wohnraum oder in eine Wohngruppe.
Susanne Sailer: Andere Familien tun sich manchmal – übrigens unabhängig von ihrer Religion – schwer damit, zu akzeptieren, dass ihr Kind eine Behinderung hat. Dann ist es schwierig, einen Kontakt zu ihnen aufzubauen. Ich kenne Beispiele, wo Familien ihre Kinder nach Afrika mitgenommen haben und mit Voodoo-Ritualen versucht wurde, eine Gesundung zu erreichen. Dann sind wir besonders gefordert, denn diese Glaubensvorstellungen sind uns fremd. Es ist unsere Aufgabe, das zu reflektieren. Was macht das mit mir, was bedeutet das für die ressourcenorientierte Arbeit?
Nadine Köhler: Manche Eltern gehen erst einmal davon aus, dass das, was medizinisch oder therapeutisch hier angeboten wird, ihrem Kind nicht hilft. Sie suchen in der ihnen vertrauten Weise nach Heilung. Und sie selbst sind die Produzenten ihrer Lebenswelt.
Susanne Sailer: Bei manchen Familien begegnen wir einem sehr hohen Leistungsanspruch. Sie wollen viel Therapie, legen großen Wert darauf, dass ihr Kind schnell krabbeln und laufen lernt und mitkommt mit den anderen Kindern. Dann sprechen wir mit ihnen über unseren Eindruck.
Wie gelingt es Ihnen, Vertrauen aufzubauen?
Nadine Köhler: Gleich beim ersten Besuch führen wir ein ausführliches Gespräch und stellen viele Fragen. Wir möchten die Familie mit all ihren Besonderheiten kennenlernen. Und natürlich ihr Kind: Was macht ihm Spaß, was isst es gern? Die Eltern spüren, wir haben ein großes Interesse an ihnen und ihrem Kind. Das haben sie in anderen Bereichen meist nicht so erlebt. So sind zum Beispiel die Untersuchungen beim Kinderarzt eher defizitorientiert. Da wird vor allem festgestellt und kommuniziert, was das Kind alles noch nicht kann. Da gehen wir anders heran und zeigen den Eltern, welche Entwicklungsschritte ihr Kind gerade geht, auch wenn das vielleicht nicht die sind, die sie gerade erwarten. Wir arbeiten mit einem ressourcenorientierten Blick. Für die Eltern kann es trotzdem – auch aufgrund der religiösen und kulturellen Unterschiede – sehr schwer sein, sich auf uns einzulassen, auf unsere Angebote der Frühförderung, auf Gesundheits- und Betreuungssystem. In den Dienstbesprechungen reflektieren wir immer wieder gemeinsam die Entwicklung, damit wir nichts übersehen und nichts überbewerten. Wir freuen uns dann über jeden kleinen Schritt aufeinander zu.
Susanne Sailer: Religiös geprägte Familien fassen oft leichter Vertrauen zu uns, wenn sie wissen, dass wir als Rauhes Haus diese Verbindung zu Glauben und Religion haben. Auch wenn wir nicht den Glauben teilen, empfinden sie doch eine gewisse Nähe. Das öffnet uns Türen.
Welche Rolle spielen Glaubensvorstellungen bei Ihrer Arbeit?
Nadine Köhler: Dass wir direkt über Glauben oder Glaubensvorstellungen sprechen, kommt eher selten vor. Es ist häufig so, dass wir versuchen zu spiegeln, welches die Werte sind, die die Eltern leben mit dem Kind. Es ist auch leider in vielen Familien eine Sprachbarriere da. Oft sprechen die Mütter wenig Deutsch und die Väter sind bei der Arbeit, wenn wir unsere Hausbesuche machen. Dann versuchen wir mit wenigen Worten viel auszudrücken.
Susanne Sailer: Glaube kann sehr hilfreich für die Familien sein. Rituale und Gebete können Hoffnung geben, wenn schwierige Situationen gemeistert werden müssen. Sie helfen, das Ganze zu ordnen und auch Hoffnung zu spüren. Die Familien machen sich große Sorgen, wenn zum Beispiel eine Operation ansteht oder sie sind verzweifelt, weil es dem Kind schlecht geht. Wir sind offen für all dies, wir beziehen es ein. Es steht schon in unseren Stellenausschreibungen drin, dass wir von jedem Bewerber und jeder Bewerberin eine religions- und kultursensible Offenheit erwarten. In jedem Bewerbungsgespräch ist das auch Thema, weil wir das einfach brauchen.
Nadine Köhler: Es kommt vor, dass wir sehen, ein Kind sollte unbedingt mal etwas außerhalb der Familie erleben und Kontakt zu anderen Kindern haben. Es täte ihm gut, wenn es in die Kita käme, nicht nur einmal die Woche zu uns in die Frühförderung. Dann sprechen wir mit den Eltern darüber. Viele behalten ihr Kind aber lieber zuhause. Es dauert manchmal bis zu einem Jahr, bis sie sich entschließen, eine Kita anzuschauen. Oder sie zögern – vielleicht auch aus religiösen Gründen – eine Operation durchführen zu lassen. Da haben wir oft eine Mittlerrolle. Wenn die Eltern merken, sie können uns Fragen stellen und über ihre Bedenken sprechen, fällt ihnen die Entscheidung leichter.
Wie wirkt sich die Corona-Krise auf Kinder mit eingeschränkter Kommunikationsfähigkeit oder psychischer Beeinträchtigung aus?
Susanne Sailer: Corona hat ihren Alltag radikal verändert. Sie blieben plötzlich immer zu Hause, bekamen keinen Besuch mehr. Auch wir durften nicht mehr zu ihnen. Für mehrere Wochen durften wir nur noch Kinder physiotherapeutisch behandeln, bei denen dies aus medizinischen Gründen auf keinen Fall unterbrochen werden konnte. Wir haben uns bemüht, wenigstens telefonisch zu allen Familien den Kontakt zu halten. So haben wir auch erfahren, wie schwierig das Zuhausebleiben für die Kinder oft war.
Nadine Köhler: Ein Kind, das gerade mühsam gelernt hatte, morgens seine Schuhe anzuziehen, um in die Kita zu gehen, soll dies plötzlich nicht mehr tun. Es versteht nicht warum. Es merkt, dass sein Alltag ein komplett anderer ist. Aber ihm fehlen die Möglichkeiten, die Gründe zu verstehen. Das führt zu Konflikten in den Familien. Auch weil es eng in der Wohnung wird, wenn alle den ganzen Tag zu Hause sind. Beratung war in diesen Monaten des Zuhausebleibens enorm wichtig. Nach den ersten Wochen hatten manche Kinder sich an den neuen Alltag gewöhnt. Aber natürlich fehlt ihnen der Kontakt zu anderen Kindern und die individuelle Förderung. Jetzt müssen sie sich auf die Wieder-Öffnung einstellen. Auch das ist nicht einfach.
Es ist schwer einzuschätzen, wie sich die Corona-Einschränkungen letztlich zum Beispiel auf Kinder mit Autismus auswirken. Ich habe von einem Jugendlichen mit Schulbegleitung gehört, der war wegen der Schulschließung zunächst völlig außer sich. Er kann, wenn er sich erst einmal daran gewöhnt hat, mit dieser Isolation im Prinzip zurechtkommen. Schwieriger wird es für ihn und andere sein, aus diesem Rückzug wieder herauszufinden und in die Schule oder in die Kita zurückzukehren.
Können Sie schon heute etwas benennen, was in der Krise existenzielle Bedeutung erlangt und auch nach der Krise bedacht bzw. bewahrt werden muss?
Nadine Köhler: Die Basis unserer Arbeit ist ehrliches Interesse an den Kindern und ihren Familien mit all ihren Besonderheiten. Das Vertrauen, das hier wächst, ermöglicht erst unsere Arbeit. In der Pandemie-Krise ist uns das noch einmal ganz deutlich geworden. Wir werden zu sehr wichtigen Kontaktpersonen für die Familien. Deshalb mussten wir unbedingt die ganze Zeit für sie ansprechbar bleiben. Wir haben wegen Corona teils neue Wege ausprobiert, um die Beziehungen auch über die Distanz hinweg zu pflegen. Wir haben uns vorgetastet und Hausbesuche mit aller Vorsicht und in genauer Absprache mit den Familien wieder aufgenommen, wo immer dies möglich war.
Susanne Sailer: Manchmal waren wir natürlich frustriert, weil das Virus so vieles blockiert hat. Dank des großen Engagements unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und weil wir mit vielen Familien einen wirklich guten Kontakt haben, war mehr möglich, als wir zunächst gedacht hatten. Es war alles sehr anstrengend, aber wir hatten die Energie, Wege zu finden, bei allen Schwierigkeiten mit den meisten Familien in Verbindung zu bleiben. Diese Kraft werden wir weiter brauchen.
Fotos: Rauhes Haus