Die Elternschule Billstedt setzte die offene Arbeit während der Corona-Pandemie fort – im Rahmen der jeweils aktuellen Verordnungen. Sie blieb eine Anlaufstelle für Eltern, Jugendliche und Kinder. Das Team wollte trotz starker Einschränkungen die Kontakte zu ihnen möglichst erhalten. Birgit Schumann (Leitung) und Katrin Koldewey blicken zurück, wie die Pandemie über ein Jahr lang ihre Arbeit prägte, was Corona für die Familien im Stadtteil bedeutete und warum ein glaubens- und kultursensibler Blick auch in der Krise weiterhalf. – Das Interview wurde im Mai 2021 geführt.
Elternschulen sind Anlauf- und Beratungsstellen für (werdende) Mütter, Väter und Familien. In offenen Treffs, Gruppen, Kursen und Veranstaltungen begegnen sich Menschen aus unterschiedlichen Lebenssituationen und Kulturen. Wichtige Themen sind Geburt und Entwicklung des Kindes, Erziehung, Familienalltag und Partnerschaft. Die Elternschulen sind Einrichtungen der Bezirke. Die Elternschule Billstedt liegt direkt am Einkaufszentrum Billstedt. Kooperationspartner sind das Rauhe Haus und das Mehrgenerationenhaus Billstedt.
Wie habt Ihr unter den Bedingungen des Lockdowns gearbeitet?
Schumann: Für unsere Arbeit ist direkte Begegnung immens wichtig. Für uns war klar, wir arbeiten weiter. Wir wollen nicht in einer Gesellschaft leben, wo in einer Krise jeder nur noch daran denkt, sich selbst zu schützen.
Koldewey: Es ist unsere Aufgabe, die Lebensbedingungen von Menschen besser zu machen. Wir sind dafür ausgebildet, in Krisen da zu sein, so wie ein Feuerwehrmann Feuer löschen muss. Unseren Beruf kann man nicht im Home-Office machen. Wir haben aufgehört, uns mit dem zu beschäftigen, was nicht geht – und stattdessen geschaut, was geht. Das hat uns getragen.
Was hat der Lockdown mit den Familien im Stadtteil gemacht?
Schumann: Es war nicht leicht, in Kontakt zu bleiben. Wir haben zum Beispiel viele Familien aus afrikanischen Ländern, die traumatisiert sind durch die Viruserkrankung Ebola, die in vielen Fällen tödlich verläuft. Für sie kam das alles wieder hoch. Sie hatten große Angst, gingen überhaupt nicht mehr vor die Tür und sagten: ‚Was ich damals erlebt habe, möchte ich nie wieder erleben!‘
Wir haben Familien entlastet, wo wir konnten. Die Kollegen, die sonst Gruppenangebote machen, haben Hausaufgabenhilfe übernommen, in Präsenz als Einzelbetreuung hinter der Plexiglasscheibe; hier haben wir auch mit dem Haus der Jugend kooperiert. Von dort bekamen wir Endgeräte für Familien, die keine hatten. Viele Familien haben auch kein Internet zu Hause bzw. in den Unterkünften. Wie sollen sie am Distanzunterricht teilnehmen? Viele Kinder verloren angesichts der geschlossenen Kitas und Schulen jedes Zeitgefühl, jede Tagesstruktur.
Koldewey: Wir mussten anrufen: ‚Erinnerst du dich: Heute ist dein Termin bei uns!‘ Oder ich habe morgens um sieben Uhr telefonisch Kinder geweckt. Das hätte ich sonst nie gemacht.
Schumann: Viele waren hungrig. Keine Schule – kein kostenloses Schulessen, das hat die Familienbudgets angegriffen, es war wie eine Hartz-IV-Kürzung. Die Einmalzahlung glich das bei Weitem nicht aus. Wir haben deshalb bei jedem Angebot mit direkter Begegnung für einen kleinen Snack gesorgt. Leider hat die Politik die besondere Betroffenheit von ärmeren Stadtteilen erst spät realisiert.
Koldewey: Wir haben versucht, Kontaktangebote unter den Bedingungen von Kontaktverboten zu machen. Je länger die Beschränkungen anhielten, desto größer wurde die Sehnsucht nach Kontakt und zugleich die Ängstlichkeit. Es gab auch gereizte Diskussionen: Darf man derzeit in eine Elternschule gehen oder ist das verantwortungslos?
Schumann: Wir haben mit Menschen zu tun, die auch vor der Pandemie schon mehr Last trugen als andere. Und jetzt sollten sie solidarisch sein auf eine Art und Weise, die sie gar nicht leisten konnten. Für die Kinder waren die Auswirkungen besonders schlimm: in sehr beengten Wohnverhältnissen, ohne Schule, ohne Kita und mit Eltern, die sich nicht mehr rausgetraut haben. Über Wochen durften sie die Geräte auf den Spielplätzen noch nicht mal anschauen! Schaukeln hätte 250 Euro Strafe gekostet.
Koldewey: Eines Tages kam ein Kind auf mich zu und fragte: ‚Kannst Du mich bitte in den Arm nehmen, obwohl Corona ist? Ich setze dafür meine Maske auf!‘ Wenn Dich ein Kind so etwas fragt, dann stimmt die Welt nicht mehr, dann brauchen wir Menschlichkeit. Dieser Moment hat sich bei mir eingebrannt: Was macht die Pandemie mit uns und was für Menschen wollen wir eigentlich sein? Wir haben Kinder gesehen, die sich die Knie aufgeschlagen hatten und keiner traute sich hinzugehen. Nicht, weil das kalte Menschen waren, sie hatten einfach Angst. Diese Angst kannst du nicht über Zoom-Konferenzen auffangen.
Wie konntet Ihr in Verbindung mit den Familien bleiben?
Schumann: Online ging da wenig. Wir konnten überhaupt nur einen Teil der Eltern und Kinder erreichen. Andere Kontakte sind abgerissen. Wir versuchen, sie jetzt neu aufzubauen.
Koldewey: Uns hilft das Vertrauen, das wir als Institution genießen. Die Familien empfinden die Elternschule als „ihren“ Raum.
Schumann: Die Familien kommen zu uns, weil es für sie einen Zweck hat: Sie können sich austauschen, werden gesehen, entwickeln sich weiter. Deshalb achten die allermeisten sehr auf die Regeln, halten Abstand, tragen Masken usw. Wir haben einen verantwortungsvollen Corona-Kurs gefahren: klare Regeln, nicht überängstlich und nicht zu lässig. Zugleich haben wir die Spielräume genutzt und gemacht, was jeweils möglich war. So haben wir alles dafür getan, die Elternschule als Ort zu erhalten, wo die Familien Kraft tanken können. Zum Beispiel haben wir im Juni 2020 unsere Gruppenangebote wieder aufgenommen und auch in den Sommerferien durchgezogen, natürlich mit eingeschränkter Teilnehmerzahl. Oder im vergangenen Winter: Da haben wir Familien einzeln in den Garten im Innenhof geholt, sogar bei Minusgraden. Die Kinder konnten im Freien spielen und wir haben währenddessen mit den Eltern gesprochen und versucht herauszufinden, wie es ihnen geht.
Koldewey: Dabei wollten wir die knappen Ressourcen möglichst gerecht verteilen. Die jungen Mütter haben wir gebeten, solidarisch zu sein und jeweils nur bei einem Angebot mitzumachen, damit möglichst viele von ihnen überhaupt kommen können. Die Hebammensprechstunde fand fünfmal pro Woche statt, damit wenigstens die Frauen aus den Kliniken versorgt sind.
Schumann: Viele Hebammen konnten über Monate keine Hausbesuche machen, das war ein Dilemma. Die Auswirkungen sehen wir jetzt: Viele Mütter sind unsicher bei der Versorgung ihrer Babys, etwa bei der Ernährung. Das zeigt, wie notwendig die Elternschulen sind, um das Kindeswohl zu gewährleisten!
Welche Bedeutung hat Glaubens- und Kultursensibilität in der Arbeit der Elternschule?
Koldewey: Die Verständigung über gemeinsame Werte und die Vermeidung voreiliger Urteile sind sehr wichtig. Beispiel Solidarität: In manchen Kulturen stehen die Frauen als Gruppe eng zusammen, erst recht in einer Krise. Für sie ist es völlig normal, dass sie auch zu uns in die Elternschule als Gruppe kommen. Das hat manche irritiert: Warum machen die das? Kennen sie die Regeln nicht? Aber wenn wir uns den Zusammenhang klarmachen und auch die übergeordneten Werte, dann nehmen wir das Verhalten der Frauen anders wahr. Sie haben gelernt, dass Solidarität etwas Gutes ist, und plötzlich sollen sie zueinander auf Distanz gehen? Mit diesem Wissen können wir unsere Wünsche – die Abstandsregeln einzuhalten – besser kommunizieren.
Schumann: Wir versuchen immer interessiert und neugierig zu sein für unser Gegenüber. Was verbindet uns? Wir sind alle Familien mit Kindern. Wo finden wir uns alle wieder und wo sind wir auch unterschiedlich? Wir wollen die Geschichte der einzelnen Mütter und ihrer Familien kennenlernen. Da schwingen Glauben und Kultur mit, aber das ist kaum ein explizites Thema. Wir bauen Vertrauen auf. Wir gehen immer davon aus, dass Eltern kompetent sind und hören ihnen zu. Wir würden nie mit der Tür ins Haus fallen mit etwas, das uns auffällt. Wir kommen nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern wir machen Vorschläge. Wir sagen zu der Mutter: ‚Schau, es gibt diese Möglichkeit und dann noch diese und diese, welche spricht dich an?‘ Wenn wir ihre Wünsche kennen, können wir ihnen Hilfe an die Hand geben.
Was nehmt Ihr aus der Krise mit?
Koldewey: Beziehungen sind das Kostbarste in unserer Arbeit. Das ist uns in dieser Krise neu bewusst geworden. Diese Beziehungen brauchen Kontinuität. Unsere offenen niedrigschwelligen Angebote sind zentral, vor allem das Familienhebammenfrühstück. Damit erreichen wir Frauen mit ihren Neugeborenen frühzeitig und bauen einen guten Kontakt zu ihnen auf.
Schumann: Gerade angesichts dessen, was im Lockdown nicht möglich war, ist deutlich geworden, wie wichtig der Blick auf die Ressourcen ist, etwa in der Geburtsvorbereitung. Wir fragen: Wie war es in deiner Familie, hast du Geschwister, bist du mit Papa und Mama groß geworden? Was wünschst du dir für dein Neugeborenes? Das ist für werdende Eltern genauso wichtig, wie das Atmen unter den Wehen zu üben.
Koldewey: Wir sollten ehrlich mit uns selbst sein und bereit zu einer gewissen Demut. So eine Krise können wir nicht beherrschen, wir können das Virus nicht steuern. Und grundsätzlich ist die Realität meist grauer als das, was wir uns für unser Leben wünschen. Das eint uns alle, ganz gleich mit welchen Kulturen oder Glaubensvorstellungen wir verbunden sind und welche beruflichen Kompetenzen und Rollen wir haben.