Die Pandemie ist (Stand Sommer 2021) sicher noch nicht vorbei, die Infektionszahlen steigen wieder. Covid-19 hat vieles verändert, manches überlagert, neues zutage gefördert. Im dritten Trialog haben wir mit Fachkräften aus den Bereichen Gesundheitsprävention, Kinder- und Jugendhilfe, Schule und Seelsorge gesprochen. Wie erleben sie diese Zeit? Wie erschöpft sind sie selbst und die Menschen in den Stadtteilen von der besonderen und sich schnell ändernden Situation? Woher kommt jetzt der Mut?

I Die Krise verstärkt Ungleichheit und Erschöpfung

Die Hamburger Stadtteile entfernen sich weiter voneinander: Die Corona-Pandemie ist eine Zumutung, sie schränkt individuelle Freiheiten ein. Der Staat kann Verordnungen erlassen, aber letztlich kann er deren Befolgung nicht überall und immer kontrollieren. Nur indem wir gemeinsam Verantwortung übernehmen und solidarisch handeln, zum Beispiel indem wir konsequent Masken tragen, kann die Pandemie eingedämmt werden. Das hat grundsätzlich gut funktioniert. Aber diese Maßnahmen verlangen nur auf den ersten Blick jedem ein ähnliches Maß an Verzicht ab. Menschen, die zuvor bereits unter Benachteiligung, Ausgrenzung und Mangel an Ressourcen gelitten hatten und die durch ihren Alltag bereits erschöpft waren, erlebten die Situation viel belastender. Sie waren einem deutlich höheren Infektionsrisiko ausgesetzt und deutlich häufiger von Einkommenseinbußen und Arbeitsplatzverlust betroffen. Die Schüler:innen aus erschöpften Familien hatten mehr Hürden zu überwinden beim Home-Schooling, fielen im Lernen zurück oder verloren ganz den Anschluss. So vergrößert die Krise die Ungleichheit für einzelne Menschen, Nachbarschaften und Stadtteile. Die Stadtteile, die sich in Hamburg ohnehin bei Einkommen, Bildungschancen und sogar Lebenserwartung sehr unterscheiden, driften durch Corona noch weiter auseinander. Es dauerte Monate, bis die Situation in benachteiligten Stadtteilen in Medien und Politik zum Thema wurden.

II Helfen in Notlagen

Die Krisen-Kompetenz, Menschen in schwierigen Lebenssituationen beizustehen, sucht sich neue Wege: Wenn die eigene Arbeit nicht wie gewohnt fortgesetzt werden kann und völlig unklar ist, wie es weitergeht, woher kommt dann der Mut, nach vorn zu denken? Die Gesprächspartner:innen berichten, wie sie in der Ratlosigkeit der ersten Pandemiemonate eines motivierte: Ihre in dieser Situation noch deutlicher als sinnhaft erlebte berufliche Aufgabe so gut wie möglich weiter auszufüllen. Dahinter stehen persönliche Wertvorstellungen und auch der individuelle Glaube. Sie tragen auch, während sie sich von äußeren Strukturen und Institutionen weitgehend alleingelassen fühlen in der Ausnahmesituation. Wie kann weitergearbeitet werden, wenn Schließen und Leistungen einstellen keine Option ist, weil dadurch zum Beispiel von Gewalt betroffene Kinder nicht geschützt werden können? Oder weil es gravierende gesundheitliche Folgen für Kinder hat, wenn Frühförderung unterbrochen wird? Oder wenn dadurch Frauen keine Möglichkeit haben, sich bei familiären Problemen Rat zu holen? Oder wenn Menschen Seelsorge brauchen? Die Pandemie-Verordnungen geben darauf keine Antwort. Um weiter arbeiten zu können, wurden alle verbleibenden Möglichkeiten genutzt: Telefonische Kontakte und Online-Treffen zum Beispiel, wo dies sinnvoll war. Und Fachkräfte sind Risiken eingegangen, um ihre Arbeit weiter tun zu können. Über Monate waren Stoffmasken die einzig verfügbare Schutzausrüstung.

III In Verbindung bleiben

Kreative Kommunikationswege und die Hygieneregeln beachtende Gruppenangebote stabilisieren bereits bestehende Kontakte: Die Verbindung mit den Menschen im Stadtteil und in der Schule ist essenziell. Hier ist über Jahre Vertrauen gewachsen, dass man zuverlässig für sie da ist. Dieses Vertrauen ist die Basis der Arbeit. In Wilhelmsburg musste sich das Team von Corinna Mirbach (Das Rauhe Haus) viel stärker auf einzelne Familien konzentrieren, um den Kontakt halten zu können. Manche von ihnen reagierten mit sehr weitgehendem Rückzug auf die Pandemie, hatten große Angst und isolierten sich sogar mehr als von den Behörden angeordnet. Einige ließen ihre Kinder gar nicht mehr aus der Wohnung. Nur mit sehr intensiven Gesprächen am Telefon und an der Haustür gelang es schließlich, dass einige Kinder dann doch an Angeboten des Teams teilnehmen durften. Dafür wurde das Team-Büro umfunktioniert zu einem Raum mit Spiel- und Bewegungsangeboten. Die Billstedter Elternschule lud mitten im Winter Familien einzeln auf den kleinen Spielplatz im Innenhof der Elternschule ein, mit warmen Decken und heißem Tee, um so mit Kindern und Eltern im Gespräch zu bleiben. In den Räumen der Elternschule wurden einzelne Schüler:innen beim Homeschooling technisch und pädagogisch unterstützt.
In Mümmelmannsberg traf sich Pastor Stephan Thieme mit Konfirmand:innen zum Spaziergang, als an normalen Konfi-Unterricht nicht zu denken war. Es ist eine wechselseitige Verbundenheit: Wenn die Angebote genutzt werden, hat die eigene Arbeit eine Bedeutung für die Menschen im Stadtteil. Wenn die Einrichtungen trotz aller Schwierigkeiten weiterhin Angebote an den Stadtteil machen, zeigen sie, wie wichtig ihnen ihre Nutzer:innen und die Menschen im Stadtteil generell sind. Über die Rollen (Fachkräfte hier, Nutzer:innen da) hinweg ist es eine Verbindung zwischen Menschen, die wechselseitig Mut macht.

IV Das Team ist die entscheidende Kraftquelle

Ein Ort praxisnaher und situationsgerechter Entscheidungen: Wenn die Welt Kopf steht, kann ein vertrauensvoll zusammenarbeitendes Team helfen, die Dinge wieder zu ordnen. Die gemeinsame Analyse der – sich ständig ändernden – Lage erlebten unsere Gesprächspartner:innen als besonders wichtig und auch den Austausch über die Verunsicherung, die dies alles auslöst. Die Teambesprechungen mussten teilweise per Video durchgeführt werden. Vor allem jedoch persönliche Treffen motivierten dazu, unter erschwerten Bedingungen weiterzuarbeiten und neue Formen und Formate für die eigene Arbeit zu finden. Das Team, genauer gesagt das Kollegium, wurde auch für Cemile Niron in der Pandemie noch viel wichtiger als zuvor schon. Die Lehrerin für Deutsch, Englisch und Türkisch am Gymnasium Finkenwerder sah ihre Kolleg:innen über Monate fast nur auf dem Bildschirm. Trotzdem, dieser Austausch war für sie entscheidend. Während der Homeschooling-Monate haben sie gemeinsam an dem Ziel gearbeitet, alle Schüler:innen im Blick zu behalten, niemanden zurückzulassen, auch diejenigen nicht, die beim Homeschooling nicht aktiv mitmachten oder regelrecht abtauchten. Als interkulturelle Koordinatorin hat Cemile Niron Kontakt zu vielen Familien und auch zu den Moscheegemeinden aufgebaut. Auch wenn die zuvor intensive Elternarbeit der Schule fast zum Erliegen kam, halfen die Kontakte ihr, die Situation der Schüler:innen in den Familien besser zu verstehen. Das Fortsetzen des Unterrichts mit digitalen Mitteln war die eine Herausforderung, die Zeit und Kraft kostete. Aber noch wichtiger war es, die Kontakte zur eigenen Klasse zu halten, als Voraussetzung für erfolgreiches Unterrichten. Möglichst keine:n zurücklassen, das war das oberste Ziel, wichtiger als Lehrpläne und Leistungskontrollen – und das Kollegium verfolgte es gemeinsam.
In Mümmelmannsberg treten drei Seelsorger bereits mehrere Jahre regelmäßig gemeinsam auf. Pastor Stephan Thieme, Rabbiner a. D. Moshe Navon und Imam Abu Ahmad Jacobi, die wollen als Theologische Präsenz gemeinsam ein Zeichen setzen für interreligiösen Dialog und Diversitätsfreundlichkeit. Sie entwickeln Online-Aktivitäten, um weiter in Kontakt mit dem Stadtteil zu bleiben, der nur noch zu einem sehr kleinen Teil der evangelischen Kirchengemeinde angehört. Viele Menschen sind muslimisch, andere nicht-religiös. Unter anderem haben sie ein Talk-Format entwickelt, bei dem sie gemeinsam mit einem Hausarzt und vielen Stadtteilbewohner:innen über das Impfen diskutierten und alle drei als Vertreter ihrer Religionen für das Impfen warben.

V Gute Vernetzung im Stadtteil

Gemeinsam mit Kooperationspartnern kann man in Notlagen schneller helfen: Die Poliklinik Veddel verbindet als medizinisch-soziales Pilotprojekt medizinische Grundversorgung, Sozialberatung und Gesundheitsprävention u.a. durch Hausärzte und Hebammen in einem der am stärksten von Armut betroffenen Hamburger Stadtteile. Während der Pandemie blieb die Praxis weitgehend geöffnet. Das Projektteam schaute gemeinsam auf die Situation: Wo lagen jetzt weitere Bedarfe, wo die Poliklinik die Stadtteilbewohner:innen unterstützen konnte? Die Veddel ist einer der Stadtteile, wo besonders viele Menschen sich mit COVID-19 infizierten und auch die ökonomischen Auswirkungen (Einkommenseinbußen, Jobverlust) besonders hart waren. Die Poliklinik hat die Vernetzungsarbeit ausgebaut, die Nachbarschaften noch stärker einbezogen und immer wieder bei den Menschen im Stadtteil nachgefragt, was sie aktuell am meisten brauchen. Daraus entstand ein Veddeler Notruftelefon für Ältere, Kranke und Alleinstehende. Ein mobiler Infostand ist seit Monaten täglich vor Ort mit Ansprechpartner:innen aus der Poliklinik, zum Beispiel für Fragen rund ums Testen und Impfen. Zusammen mit Stadtteilbewoher:innen mit Bezug zu verschiedenen Communities entstanden kurze Videos in verschiedenen Sprachen mit Infos zur Pandemie, zu Schutzmaßnahmen und Beratungsmöglichkeiten. Über Monate setzte sich die Poliklinik für lokale Impfangebote ein. Seit Mai führt sie Impfungen durch.

VI Individuelle Freiheitsrechte contra Gemeinwohl

Das ist eine Herausforderung, auch für die Soziale Arbeit, die bisher sehr auf das Individuum ausgerichtet war. Doch große Krisen lassen sich nur solidarisch bewältigen: Solidarität hat durch die Corona-Pandemie noch mal einen höheren Wert bekommen. Jeder Mensch hat eine Verantwortung in der Gesellschaft. Es wurde schon so oft gesagt und bleibt wichtig: Aus der Pandemie finden wir nur gemeinsam heraus, nur wenn wir uns selbst und zugleich andere durch rücksichtsvolles Verhalten schützen. Ohne Solidarität geht es nicht. Für die konkrete Arbeit unserer Gesprächspartner:innen bedeutet es, noch stärker auf Vernetzung im Stadtteil zu setzen und Begegnung zu fördern. Jeder Stadtteil ist auch ein Mikrokosmos, ein Lernraum, in dem wir erfahren können, wie es gemeinsam gehen kann. Hier treffen im besten Fall Kulturen und Welten aufeinander und es entsteht Neues aus der Begegnung. Diese Begegnung braucht Räume, Anlässe, einen Rahmen. Daraus kann Nachbarschaftshilfe entstehen oder auch ein künstlerisches Projekt.
In den Stadtteilen leben unterschiedliche Gruppen, die auch unterschiedliche Haltungen zu Corona, zum Impfen, aber auch etwa zum Glauben und zum Umgang miteinander haben. Diese Gruppen grenzen sich teilweise voneinander ab. Dies lässt sich auf lokaler Ebene ebenso beobachten wie auch für ganze Länder. Eine vielbeachtete Studie der Uni Münster führt dies vor allem auf zwei Gruppen zurück, die sie „Entdecker“ und „Verteidiger“ nennt. Während die „Entdecker“ offen sind für Veränderung und für Vielfalt, geht es den „Verteidigern“ vor allem um das Bewahren von traditionellen Werten, Zusammenleben in Diversität empfinden sie teils als Bedrohung. Das eigentliche Problem ist die daraus entstehende Abgrenzung zwischen diesen Gruppen, sie erfolgt oft über wechselseitige Abwertung, eine regelrechte Abwertungsspirale, aus der nur schwer herauszukommen ist. Diese Polarisierung ist ein Problem. Wie können wir dafür sorgen, dass „Entdecker“ und „Verteidiger“ sich zum Beispiel auf Stadtteilebene begegnen und wie kommen wir auch selbst raus aus Abwertungsspiralen? Die Forscher sind überzeugt, dies geht nur über eine wechselseitige Anerkennung der jeweiligen Bedürfnisse wie Kontinuität und Sicherheit auf der einen, und Veränderung und Erneuerung auf der anderen. Nur wenn über die unterschiedlichen Standpunkte hinweg eine grundsätzliche Akzeptanz besteht, ist solidarisches Handeln überhaupt denkbar.
Das Team der Elternschule Billstedt erlebte ein solches Beispiel: In manchen Kulturen stehen die Frauen als Gruppe eng zusammen, erst recht in einer Krise. Für sie ist es völlig normal, dass sie auch in die Elternschule als Gruppe kommen. Das hat andere Nutzer:innen irritiert: Warum machen diese Frauen das? Kennen sie die Regeln nicht?  Wenn man sich ihre Bedürfnisse klarmacht und auch die übergeordneten Werte, dann lässt sich das Verhalten der Frauen anders wahrnehmen. Mit unvoreingenommenem Blick lässt sich eine Ressource darin entdecken: Die Frauen haben gelernt, dass Solidarität etwas Gutes ist. Über lange Zeiträume, gerade in Krisenzeiten ist dies eine wichtige Ressource. Deshalb fällt es ihnen schwer, plötzlich zueinander auf Distanz zu gehen. Wenn wir uns das bewusst machen, wenn wir darüber auch mit anderen sprechen, lässt sich zum Beispiel der Wunsch, in einer Institution die Abstandsregeln einzuhalten, auf Augenhöhe äußern und das verändert die ganze Situation.

VII  In und aus der Krise lernen

Gebraucht werden kritisch-kreative Ideenwerkstätten, die die frischen Erfahrungen bewahren, bewerten und daraus Neues entwickeln! Mit der Pandemie und Naturkatastrophen leben zu lernen, ist existenziell wichtig für die Arbeit in allen sozialen Bereichen: Nach all den Anstrengungen soll die Zeit der Pandemie, die unser Leben nun schon für über ein Jahr weitgehend prägt, auch etwas Positives bewirken, so der von allen Gesprächspartner:innen geäußerte Wunsch. Die Erfahrungen von dem, was in der Krise nicht funktioniert hat, was die Arbeit behindert hat, aber auch all das, was sie neu hervorgebracht hat, sollen nicht einfach wieder vergessen werden. Sie schlagen deshalb eine Ideenwerkstatt vor: Sie möchten ihre Erfahrungen teilen und daraus Neues entwickeln in einem stadtweiten Austausch. Was haben wir in unseren jeweiligen Bezirken und Stadtteilen gelernt über die Interessen von Kindern, Jugendlichen, Frauen, Älteren und Familien gerade in Stadtteilen, denen es nicht so gut geht? Wie können sie gerade in schwierigen Zeiten unterstützt werden? Was haben wir in dieser Krisensituation über das Zusammenleben von verschiedenen Kulturen gelernt? Menschen, die aus eigenen Mitteln die Einschränkungen von Pandemie-Regelungen nicht kompensieren können, dürfen mit dieser Situation nicht allein gelassen werden. Beim Entscheiden über nötige Einschränkungen muss mitbedacht werden, wie diejenigen unterstützt werden können, die davon am härtesten getroffen werden. Der Sozialen Arbeit, die sich in den letzten Jahren sehr stark auf die individuelle Unterstützung konzentriert hat, kommt hierbei eine wichtige neue Aufgabe zu (s. dazu auch das Interview mit Prof. Ronald Lutz): Ihre Beobachtungen aus der Praxis, ihre Expertise zu den gesellschaftlichen Folgen von politischen Entscheidungen, stärker in die Öffentlichkeit einzubringen. Der dritte Trialog war insofern schon ein Beitrag dazu, als hier Erfahrungen aus Schule, Elternschule, Kirchengemeinde, Gesundheitsprävention und Kinder- und Jugendhilfe zusammengeflossen sind.

Die Teilnehmer:innen beim dritten Trialog

Birgit Schumann und Katrin Koldewey von der Elternschule Billstedt, Cemile Niron vom Gymnasium Finkenwerder, Tina Röthig von der Poliklinik Veddel, Corinna Mirbach, Ambulante Hilfen und Wohngruppen des Rauhen Hauses, Wilhelmsburg sowie Pastor Stephan Thieme, Rabbiner a. D. Moshe Navon und Imam Abu Ahmad Jacobi, die gemeinsam als Theologische Präsenz in Mümmelmannsberg auftreten. Der Trialog fand pandemiebedingt in Form von Telefonaten und online statt.

 

Lesen Sie dazu auch unser Interview mit Prof. Ronald Lutz: „Soziale Arbeit muss sich neu erfinden“